Der Fluß
gefallen hätte oder ob nicht. Durch die Gedanken an sie werde ich zu Tränen gerührt, während Marianne ganz ruhig dasteht, mit einem kleinen Lächeln, aber ohne große Gefühle zu zeigen, und ich versuche, mich zusammenzunehmen. In dem Moment drückt Marianne meine Hand und Fräulein Biong beginnt mit ihrer Rede:
»Liebes Brautpaar. Ihr seid heute hergekommen, um den Bund fürs Leben zu schließen. Es ist ein großes undwichtiges Ereignis, wenn zwei Menschen den Schritt in die Ehe tun …«
Dann fragt sie uns, ob wir uns haben wollen. Dann antworten wir mit Ja. Dann erklärt uns Fräulein Biong für verheiratet. Wir stecken uns die Ringe an, und ich merke, daß meine Hand zittert. Wir küssen uns.
»Ich bin so glücklich«, sagt Marianne Skoog Vinding, auf diesem Namen hatte sie bestanden.
Ich werde von großen Gefühlen überwältigt. Dazu paßt das Gewitter vor dem Fenster, strömender Regen und Donner. Wir nehmen ein Taxi und nehmen das Hochzeitsmahl im Restaurant des Hotels ein. Foie gras und weißer Spargel. Wir trinken Champagner und Weißwein. Wir essen Walderdbeeren mit Eis und trinken Kaffee und Grappa. Wir bleiben lange am Tisch sitzen und reden über das Schicksal, das uns hierhergeführt hat, zu diesem Punkt im Leben. Und wir schmieden Pläne für die Hochzeitsreise.
Dann gehen wir eng umschlungen hinauf in unser Zimmer. »Den Rest besorgt der Zimmerservice«, sagt Marianne und zeigt mit einem neckenden Finger auf meinen Nacken.
Die Morgengabe
Als wir erwachen, ist es längst Samstag. Da gibt sie mir die Morgengabe. Ich kannte diesen Brauch nicht. Daß eigentlich ich ihr eine geben sollte. Es sind zwei Eintrittskarten, Plätze in der fünften Reihe für das Abendkonzert mit den Wiener Philharmonikern im Musikverein. »Ich dachte, das würde dich freuen«, sagt sie und gibt mir das Programm. Claudio Abbado dirigiert Mahlers dritte Sinfonie.
Was für ein Zufall, denke ich. Diese Sinfonie schätze ich von allen Sinfonien am meisten! Es ist aber auch die, die mich am meisten beunruhigt.
Ich sage es ihr.
»Warum beunruhigt sie dich?«
»Weil sie soviel Unheimliches und Brutales enthält, jedenfalls am Anfang. Zugleich reicht sie höher in den Himmel als alle anderen Sinfonien, die ich kenne, als wollte Mahler Beethoven übertreffen, das Leben selbst, und das Geheimnis des Daseins in einer einzigen Tonmalerei erfassen.«
»Das hört sich schön an«, sagt Marianne und schmiegt sich eng an mich. »Erzähl weiter. Ich liebe es, wenn du über Musik sprichst, die du liebst.«
»Ich habe irgendwo gelesen, daß Mahler in der Kladde zu der kolossalen Partitur die Überschriften zu den sechs Sätzen notiert hatte. Weißt du, wie der erste Satz heißt? ›Pan erwacht, der Sommer zieht ein‹.«
»Beeindruckend.«
»Das ist auch beeindruckend. Eine erschütternde Geschichte. Ein Kampf auf Leben und Tod, zwischendurch mit unendlich schönen Partien, eine Art verzweifelter Sehnsucht. Vielleicht habe ich deshalb diese Musik so oft gespielt, während du in der Klinik warst. Aber bereits im zweiten Satz kommt eine Idylle, die Freude über die kleinen Dinge im Leben. Und den Satz hat er ›Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen‹ genannt. Aber im dritten Satz, dem Scherzo, das ›Was mir die Tiere im Walde erzählen‹ heißt, kehrt das Unheimliche zurück als ein Gewitter, eine unerwartete Gefahr, ein Raubtier. Und er beschreibt dieses Lebensgefühl so bildhaft, indem er zuerst das Paradies schildert, wie man es wahrnimmt, wenn man an einem Sommertag durch den Wald geht und in der Ferne melancholische Jagdhörner hört. Wie eine zitternde Versöhnung mit der Natur und dem Universum. Aber die Idylle ist nicht von Dauer! Etwas Fürchterliches geschieht. Und Mahler erschreckt uns mehr, als selbst die Natur es fertigbringt.«
»Du erzählst so lebendig«, sagt Marianne. »Ich fürchte mich beinahe.«
»Aber von da an ist alles Versöhnung oder Auferstehung. Vielleicht ist das Mahlers eigenes Credo, sein Glaubensbekenntnis. Satz vier, ›Was mir der Mensch erzählt‹, ist eine wunderbare Elegie, in der ein Mezzosopran Nietzsches berühmten Text aus ›Also sprach Zarathustra‹ singt: ›O Mensch! Gib acht!‹ Verzeih mir die ungenaue Übersetzung, aber ich war nie ein Held im Deutschen. Die Aussage des Textes lautet jedenfalls: ›Was spricht die tiefe Mitternacht? Ich schlief, ich schlief. Aus tiefem Traum bin ich erwacht. Die Welt ist tief, und tiefer, als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh. Lust –
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