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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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die Noten vor mich hin. Die Henle-Ausgabe des Urtextes. Aber ich spiele auswendig.

    Er kommentiert nicht zwischen den Sätzen. Er sagt nur, zurückgelehnt in seinem Stuhl: »Fahren Sie fort, junger Mann.«
    Ich fahre fort, spiele alle Sätze. Ich fühle mich erstaunlich konzentriert. Ich denke, daß ich nun einen Teil des Paktes zwischen mir und Selma Lynge einlöse. Aber ich merke, daß mir in den kraftvollen, tempomäßig überhöhten Partien die erforderliche Stärke oder Geschmeidigkeit in den Händen fehlt.
    Aber das kann man fast nicht hören.

    Dann bin ich fertig. Professor Seidlhofer sitzt still auf seinem Stuhl, denkt nach. Ich sitze auf dem Klavierhocker und warte gespannt.
    »Das ist gut«, sagt er. »Das ist erstaunlich gut. Woher habt ihr Nordmenschen dieses Talent? Kennen Sie Margrethe Irene Floed? Sie ist Schülerin bei mir. Und ich kann weitere Namen nennen. Kayser, Smebye, Braathen. Schweinebraten! Aber Sie müssen in Ihrer Musik mehr Pausen machen, junger Mann. Sie halten sich für genial und meinen, alle Ihre Einfälle hätten eine Daseinsberechtigung. Aber da irren Sie sich möglicherweise. Es ist etwas Unheimliches mit uns Menschen, daß wir glauben, eine innere Landkarte zu besitzen, der wir vertrauen können. Besonders, wenn wir jung sind, vertrauen wir dieser Karte. Vielleicht, weil wir glauben, alle Zeit der Welt zu haben. Denken Sie an Scott, der als erster am Südpol sein wollte. Er verlor, wie Sie wissen, gegen einen Ihrer Landsleute. Er hatte einen Plan. Er vertraute auf den Plan. Er traf einige wichtige Entscheidungen. Aber das eine müssen Sie sich merken, Vinding. Vertraue nie zu sehr auf Pläne. Sie können falsch sein. Einen sicheren Platz im Leben können uns nur die Erfahrungen geben. Scott erfror in einem Zelt, weil er zu sehr von seinen Plänen überzeugt war. Er nahm einige Menschen mit inden Tod. Sie hatten keine Pläne. Das Planen überließen sie ihm. Ich habe auch keine Pläne mehr. Aber vielleicht habe ich etwas mehr Erfahrung im Leben als Sie. Vielleicht habe ich auch mehr Erfahrung als Selma Lynge. Deshalb möchte ich, wenn Sie erlauben, junger Mann, einige Anmerkungen in Ihren Noten machen, die Sie als Warnungen auffassen mögen.«
    Bruno Seidlhofer steht von seinem Stuhl auf.
    »Dann wollen wir frisch ans Werk gehen«, sagt er mit einer Prise Selbstironie.
    Er steht über mich gelehnt. Ich nehme den Duft nach altem Mann und einem diskreten Parfum wahr. Ich merke, daß ich seine Nähe mag. Aber er zieht seinen Füllfederhalter heraus. Er schreibt mit Tinte! Er überschreibt Selma Lynges zierliche, mit Bleistift gemachte Anmerkungen. Er markiert Pausen, Fermaten, er schreibt Fingersätze. Er geht meine ganze Interpretation durch, korrigiert mit erstaunlichem Erinnerungsvermögen, wo er meint, ich hätte falsch gespielt. Ich hasse, was er da tut, weil er Tinte benutzt, weil die Tinte in den Noten bleiben wird, und das weiß er. Deshalb ist es eine ungeheure Frechheit. Eine autoritäre Handlung. Und trotzdem akzeptiere ich sie. Weil ich erkenne, daß er recht hat. Weil er Bruno Seidlhofer ist. Weil seine akademische Art, mit meinen interpretatorischen Behauptungen umzugehen, in meinen Gefühlen aufräumt. Weil er mir damit klarmacht, daß ich zu früh eine Karte gezeichnet habe, bevor ich das Terrain kannte.
Ofenloch
    Ich esse mit Marianne im Ofenloch zu Mittag. Wir sitzen draußen, unter den wuchtigen Barockfassaden in der Kurrentgasse. Es ist weiterhin erstaunlich warm.
    »Ich bin so froh, daß bei dir alles gutgegangen ist«, sagt sie.
    »Na ja gut«, sage ich. »Er hat mit Tinte in meine Noten geschrieben. Er hat mich und Selma Lynge in Frage gestellt. Ich weiß jetzt gar nicht mehr, ob das Konzert, das ich am neunten Juni geben soll, von mir ist oder von Professor Seidlhofer.«
    »Natürlich ist es deines«, sagt sie und wirft mir einen strengen Blick zu. »Professoren haben ihre eigene Art, aber sie haben nicht immer recht. Hör auf dich selbst.«
    Ich schaue in ihr glückliches Gesicht, nehme ihre Hand, küsse sie und bestelle noch ein Glas Wein für sie.
    Sie hat bereits einiges getrunken. Aber sie verträgt es. Sie hat eingekauft, hat mir ihre neuen Schuhe gezeigt. Aber sie ist immer noch auf der Suche nach einem Hochzeitskleid. Und sie hat wieder mit mir geschlafen, in der glühenden Nachmittagssonne, die direkt auf das Doppelbett im Hotelzimmer schien. Sie hat auch da geweint. Die Haut war weiß wie Schnee. Und sie kniff die Augen zusam– men.

    Da sehe ich

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