Der Fluß
Margrethe Irene auf der Straße, direkt bei den Tischen. Sie geht eng umschlungen mit einem dunklen, lateinamerikanisch aussehenden Mann. Sie sieht mich zuerst. »Aksel!« ruft sie und befreit sich aus der Umarmung des Mannes.
»Margrethe Irene«, rufe ich zurück und versuche zu vergessen, daß sie mich, als ich Schluß gemacht habe, mit einem Handgriff beinahe kastriert hätte.
»Was machst du denn hier?« sagt sie völlig überrascht.
»Ich nehme Zusatzstunden bei deinem Lehrer. Professor Seidlhofer. Ich debütiere im Juni.«
»Ach ja, stimmt«, sagt sie. »Er hat mir erzählt, daß du kommst. Aber ich habe es vergessen, es ist einfach zuviel los in dieser Stadt.«
Ich verspüre einen Stich. Sie hat sich nicht gemerkt, daß ichkommen werde. Dann bin ich jetzt völlig aus ihrem Kosmos verschwunden.
Sie wirft einen fragenden Blick auf Marianne, erkennt sie nicht wieder.
»Das ist Marianne Skoog«, sage ich. »Anjas Mutter.«
Ich sehe, daß sie zusammenzuckt. »Anjas Mutter?« sagt sie fast andächtig. »Ja, jetzt sehe ich es. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll …«
»Sag gar nichts«, sagt Marianne freundlich.
Margrethe Irene mustert uns erstaunt, versucht herauszufinden, was wir füreinander sind. Und begreift rasch, daß wir ein Paar sind.
Die beiden holen sich Stühle vom Nachbartisch, setzen sich zu uns. Margrethe Irene stellt ihren Freund vor. Irgendein Carlos. Er spricht kein Englisch. Sie spricht perfekt spanisch mit ihm.
»Carlos gehört zu den größten Klavierbegabungen«, sagt sie. Er wird während der Wiener Festwochen an der Meisterklasse von Alfred Brendel teilnehmen. Er ist außerdem entfernt verwandt mit Martha Argerich.«
»Wie schön«, sage ich.
»Es ist merkwürdig«, sagt Margrethe Irene, »aber in der Stadt wimmelt es von Pianisten. Weltberühmte Namen neben völlig unbekannten Interpreten. Pianisten jeden Alters und jeder Hautfarbe. Wien ist sozusagen wie geschaffen für das Klavier. Entweder wird man überschwenglich davon oder gelangweilt. Unglaublich, an wie vielen Stellen in der Stadt im Augenblick Beethovens ›Appassionata‹ gespielt wird oder Chopins Balladen oder Schuberts postume Sonaten. In jedem Hinterhof Klavierklänge. Überlebt man in dieser Stadt ein Studium, ist man wirklich Pianist. Aber danach fühlt man sich vielleicht etwas irre, etwas monoman. Hält nach dieser Gehirnwäsche das Pianospiel für dasWichtigste auf diesem Erdball. Und das trifft nun mal nicht zu. Aber mit irgend etwas muß man sich schließlich die Zeit vertreiben, oder?«
Wir bleiben sitzen und reden. Ich lade alle zum Wein ein. Möchte gerne weltmännisch auftreten. Die zurückhaltende, schüchterne Margrethe Irene Floed hat sich in eine selbstsichere, redegewandte und unleugbar schöne Prinzessin verwandelt. Sie hat sich auf Carlos’ Schoß gesetzt, hat ihr Leben im Griff und redet ungeniert über das, was war. Sie vertraut Marianne an, wie sehr sie in mich verliebt war, daß ich sie aber verschmäht habe. Sie warnt Marianne, damit sie nicht dasselbe Schicksal erleidet. Margrethe Irene erzählt, daß sie zutiefst froh sei, weg von Norwegen zu sein, daß sie bis zum Diplom in Wien bleiben werde. Dann wolle sie debütieren. In einigen Jahren. Wenn sie sich reif fühle. Es gehe darum, nichts zu überstürzen. Wie zum Beispiel Rebecca Frost. Oder wie … sie verschluckt es. Sie strahlt und küßt bei jedem zweiten Satz Carlos auf die Wange. Die Zahnspange, die sie zu meiner Zeit trug, ist weg. Sie ist verblüffend schön. Und sie weiß das.
Sie schaut mich an, ganz ohne Bitterkeit, und fragt, ob wir uns, nachdem wir jetzt in Wien seien, einmal verabreden könnten. Ich sage schnell, etwas zu schnell, daß wir keine Zeit hätten. Daß wir in den wenigen Tagen so viel zu erledigen hätten. Das klingt hektisch, und Marianne wirft mir einen erstaunten Blick zu. Aber Margrethe Irene akzeptiert es. Sie fragt nicht einmal, was wir in diesen Tagen vorhaben. Es ist, als habe sie das, was zwischen uns vor kaum eineinhalb Jahren war, ausradiert. Sie ahnt, was zwischen Marianne und mir läuft. Daß wir Wien Wien sein lassen. Daß wir sicher die meiste Zeit im Bett verbringen. Sie steht vom Tisch auf. Es ist sommerlich warm. Sie trägtein dünnes Baumwollkleid mit einem Ausschnitt, der nicht verbirgt, daß sie jetzt eine erwachsene Frau ist. Ich denke an das, was wir zu Hause in ihrem Zimmer machten, als wir jung und unschuldig waren, als wir zur Gruppe Junge Pianisten gehörten.
»Wir
Weitere Kostenlose Bücher