Der Fotograf
durchdringenden Blick an.
»Das ist ganz allein deine Schuld. Es ist so, als hättest du selbst die Pistole genommen und abgedrückt, als hättest du selbst diesen Mann ermordet. Dieses Leben ausgelöscht. Siehst du? Jetzt bist du nicht besser als ich. Verstehst du? Verstehst du, Mörderin?«
Anne Hampton nickte in Tränen aufgelöst.
»Wie fühlt man sich so als Killer?«
Sie fand keine Worte, und er bedrängte sie nicht.
Sie fuhren in die tiefe Nacht.
7. KAPITEL
Fassungslosigkeit
12.
Martin Jeffers eilte mit flatternden weißen Rockschößen durch die geschlossene Abteilung. Die Patienten, die in Trauben zusammenstanden und bei seinem Kommen auseinanderstoben wie unschuldige Tiere auf dem Hof, nahm er kaum zur Kenntnis. Immerhin schaffte er es, die ihm bekannten Patienten mit einem kurzen Nicken zu grüßen, während sie die Geste mit der üblichen Mischung aus Glotzen, Grinsen, Knurren sowie abgewendeten Blicken und einem gelegentlichen Fluch erwiderten – der ganz normale Alltag in der geschlossenen Abteilung. Er wusste, dass sein schneller Schritt hinter seinem Rücken Diskussionen auslösen würde. In einer Welt beharrlicher Routine weckte jedes Verhalten, das eine äußere Dringlichkeit signalisierte, Neugier und bot sich als Gesprächsstoff an.
Währenddessen trieb die Nachricht vom Eintreffen der Kripobeamtin seine eigenen Spekulationen voran, und auf seinem Marsch durch die Flure überlegte er, welcher der Lost Boys in den letzten Jahren einmal in Miami gewesen sein könnte und wer von ihnen sich verdächtig dagegen gesperrt hatte, über seine jüngste Vergangenheit zu reden. In einer Gruppe, die viel von ihrer Energie darauf verwandte, Dinge zu verbergen,hatte Jeffers die Fähigkeit zur Kunst erhoben, Tabus und Heim lichkeiten aufzuspüren. Er durchforstete seine Erinnerung, doch auf Anhieb fiel ihm niemand ein. Er spürte, wie aufgeregt er plötzlich war; die Worte »Beamtin von der Mordkommission« umgab etwas Geheimnisvolles, eine eigentümliche Faszination. Er versuchte, sich eine Frau vorzustellen, die in einem Mord ermittelte, und kam zu dem Schluss, dass es sich nur um eine ungepflegte, kantige und zielstrebige Person handeln konnte. Er überlegte, wie er darauf kam, dass die Beschäftigung mit Mord eine Männerdomäne sei; als ob blutverschmierte, übel zugerichtete Leichen von Natur aus Sache von Männern wären, so wie Pokerrunden und Umkleidekabinen im Sportverein.
Ihn bedrängten Bilder von plötzlichem, gewaltsamem Sterben. Für eine Sekunde schoss in ihm das Bild seines Bruders hoch, in Buschhemd und Khakihose, auf dem Sprung zu einer seiner Reisen in einen Krieg, ein Desaster oder irgendeinen anderen Auswuchs menschlichen Wahnsinns.
Er dachte an seine Fotos aus Saigon, Beirut und Zentralamerika. Eins von Dougs Bildern hatte er in einer der überregionalen Wochenzeitschriften gesehen. In der Mitte stand ein anderer Fotograf zwischen den Leichen in Jonestown, Guyana. Das Grün und warme Braun des üppig wuchernden Dschungels hatte in scharfem Kontrast zu dem Mann gestanden. Der Mann hatte sich ein großes, buntes Tuch um Mund und Nase gebunden. Man brauchte nur einen Moment auf das Bild zu starren, um zu begreifen, dass er sich gegen den Gestank der in der Sonne aufgedunsenen Leichen schützte. Der Fotograf war der Inbegriff dessen, was sich die kindliche Phantasie unter einem Wildwest-Desperado vorstellte, in Jeans, Stiefeln und Denimhemd, nur dass er statt eines Revolvers seine Kamera hielt. Aus seinen Augen sprach Verwirrungund eine weltmüde Traurigkeit. Douglas Jeffers hatte seinen Konkurrenten in einem Augenblick der Unentschlossenheit abgelichtet, in dem ihn das Bild des kollektiven Selbstmords schier überwältigte und er nicht wusste, welchen schrecklichen Anblick er als Nächstes ausschlachten sollte. Eine perfekt in Szene gesetzte Vision, hatte Martin Jeffers damals denken müssen, als er das Foto zum ersten Mal sah: ein zivilisierter Mann, den es in eine prähistorische Welt verschlagen hatte und der Verhaltensweisen zu begreifen suchte, die der Tierwelt angehörten, um sie für den Konsum und zur Faszination einer Gesellschaft aufzubereiten, die gegen solche Abirrungen vielleicht weniger gefeit war, als sie sich einredete.
Jeffers eilte weiter und dachte daran, wie viele Fotos seines Bruders den Tod zum Gegenstand hatten. Ihm wurde schlagartig klar, dass sie – jedes für sich – faszinierend waren. Wir versuchen immer wieder zu begreifen, dachte er, warum
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