Der Fotograf
Mutter Doug ansah und sagte: »Es tut mir leid, dass der Vogel weggeflogen ist.« Beide Jungen hatten sie mit demselben ungläubigen Blick angestarrt, bis sie stumm den Kopf abwandte.
Sie hatte grundsätzlich von nichts eine Ahnung, hatte er zu seiner Therapeutin gesagt. Ihre Hauptbeschäf tigung bestand darin, sich herauszuputzen; und außerdem musste sie die Jungen ständig betatschen und ihnen diese nassen, nervtötenden Schmatzer aufdrücken. Sie hatte keine Ahnung von nichts, und wenn man versuchte, ihr etwas zu erklären, drehte sie sich einfach weg.
Ihr Vater hatte stumm das Essen in sich hineingeschaufelt.
Scheißkerl.
Martin Jeffers zuckte auf seinem Stuhl zurück. Erneut sah er vor sich, wie er an jenem Morgen unsanft aus dem Tiefschlaf gerissen wurde, als er die Stimme seines Bruders hörte und beim Erwachen den totenstarren Vogel in dessen Händen erblickte.
Dann sah er in seiner Erinnerung nur noch die Hände seines Bruders.
Und dann: O mein Gott!
Er sprach es laut aus, obwohl niemand da war, der ihn hätte hören können: »O mein Gott! Nein!«
Der Gedanke lastete wie ein zentnerschweres Gewicht auf ihm und begrub die Erinnerung unter sich.
»O nein. O nein, o nein«, wiederholte er.
Im selben Moment überschwemmte ihn blankes Entsetzen und düstere Trauer.
Und genau in dem Moment wurde ihm klar, wer den Vogel umgebracht hatte.
Ich bin ängstlich, dachte Martin Jeffers.
All diese Dinge sind uns beiden passiert, und ich bin still, introvertiert, einsam und passiv geworden, und er ist … Jeffers weigerte sich, den Gedanken in Worte zu fassen.
Er stellte sich seinen Bruder vor und sah sein gerötetes Gesicht mit dem lässigen Grinsen. Widerwillig führte er sich seinen Bruder vor Augen, wenn er zornig war, und er erinnerte sich an die Wucht seines Schweigens. Das hatte ihm immer Angst gemacht. Er wusste noch, wie er seinen Bruder angefleht hatte, mit ihm zu reden. Er dachte an die Frau von der Kripo und die Fotos vom Fundort der Leiche ihrer Nichte. Er versuchte, beide Erinnerungen miteinander in Einklang zu bringen.
Er schüttelte den Kopf.
Nicht Doug, dachte er.
Dann drängte sich ein hartnäckiger Zweifel auf: Wieso nicht? Er wusste keine Antwort darauf.
Martin Jeffers stand auf und wanderte in seiner Wohnung umher. Sie lag im Erdgeschoss eines alten Hauses in Pennington, New Jersey, einer winzigen Stadt, die zwischen Hopewell und Trentons Vororten eingezwängt war. Hopewell lag genau westlich von Princeton, und Martin Jeffers rief sich mit Unbehagen ins Gedächtnis, dass sein Bruder schon als Kind jedes Mal, wenn jemand Hopewell erwähnte – egal ob er es hören wollte oder nicht –, erzählt hatte, dass das verschlafene Kaff nur für eine einzige Sache berühmt sei: die Entführung des Lindbergh-Babys.
Ein Jahrhundertverbrechen, dachte Martin Jeffers.
Ihm war kalt, und er trat ans Fenster. Er legte die Hand an die Scheibe und spürte die spätsommerliche Wärme. Dennoch zitterte er und schob das Fenster energisch herunter, bis es nur noch einen Spaltbreit geöffnet war.
Man hatte das Baby im Wald gefunden. Verwest. Martin kam der seltsame Gedanke, ob vielleicht jeder Bundesstaat seine Geschichte anhand von Verbrechen ordnete. Es machte ihn betroffen, wenn er daran dachte, wie viel sein Bruder wusste. Ihm fiel wieder ein, wie Doug ihm vom Camden-Killer erzählt hatte, der an einem schönen Tag Anfang September 1949 das Haus verließ und mit einer Luger, einem Kriegssouvenir, in aller Seelenruhe dreizehn Menschen erschoss. Vor ein paar Jahren hatten diese Geschehnisse Doug fasziniert, als er erfuhr, dass sein Bruder den Mann, den die Zeitungen damals als einen tollwütigen Hund beschrieben hatten, regelmäßig in der Psychiatrischen Heilanstalt Trenton sah, wo dieser seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren durch die Flure wanderte, ein vorbildlicher Patient, der niemals einen Streit anfing, wenn die Pfleger mit der täglichen Dosis Thorazin, Mellaril oder Haldol zu ihm kamen. Vitamin H nannten es die Patienten. Der Camden-Killer nahm seine Medikamente stets ohne Murren. Ohne mit der Wimper zu zucken.
Für so etwas hatte Doug immer etwas übrig.
Martin Jeffers schüttelte den Kopf.
Sicher, aber dieser Polizeireporter aus Philadelphia, der eigens gekommen war, um einen Artikel über die Anstalt zu schreiben, war genauso gewesen. Und du erzählst die Story bei jedem albernen Seminar und jedem Kongress, den du besuchst. Es gibt eine Menge Leute, die sich an das Verbrechen erinnern
Weitere Kostenlose Bücher