Der Fotograf
Dann geh ich los und plane eine möglichst gute Kopie. Also hat die Polizei, die mitten in ganz anderen und scheinbar wichtigeren Ermittlungen steckt, diesen neuen Fall mit leichten Abweichungen am Hals. Sie lassen ihn links liegen. Er wird möglichst schnell zu den Akten gelegt.«
Er holte tief Luft. »Die meisten Mörder lassen sich schnappen, weil sie in ihrer Arroganz und ihrem Trieb eine Handschrift hinterlassen. Ich bin da viel bescheidener. Mir ist der Akt als solcher wichtig. Ohne meine Unterschrift darunterzusetzen.Also schlüpfe ich, um zu morden, in die Haut eines anderen. Ich versetze mich in diese andere Person. Ich verwende Einzelheiten, die ich kenne oder die ich erschließen kann, und erfreue mich an meiner eigenen Perfektion im Detail. Ich komme an. Ich morde. Ich gehe wieder. Und niemand außer mir selbst wird daraus klug.«
Er legte eine Pause ein, bevor er fortfuhr: »Nur dass ich allzu versiert, allzu vorsichtig geworden bin. Zu clever, zu perfekt.« Er schüttelte den Kopf.
»Das Klopfen an der Tür? Ein Haftbefehl? Ist noch nie vorgekommen. Ich will mich damit nicht brüsten. Das hat mit Effizienz und Selbstvertrauen zu tun.«
Sie glaubte, einen traurigen Unterton herauszuhören.
»Da geht der Nervenkitzel verloren.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Es ist, ganz platt gesagt, einfach viel zu leicht geworden.«
»Deshalb bist du hier«, erklärte er in sachlichem Ton. »Du sollst mir helfen, das Ganze zu einem angemessenen, passenden und gebührend explosiven Schluss zu bringen.«
Er sah wieder nach vorne.
»Du kannst jetzt ruhig schlafen«, sagte er. »Ich bin ein bisschen überdreht. Am besten fahre ich einfach eine Weile weiter.« Mit einem Mal empfand er eine große, angenehme Erleichterung. Er dachte: Da, endlich. Ich habe es jemandem erzählt. Jetzt wird es bekannt.
»Jetzt fahren wir nach Hause«, meinte Jeffers. »Auf Umwegen natürlich. Aber nach Hause. Gute Nacht, Boswell.«
Sie hörte seine Stimme, und das Wort drang ihr ins Bewusstsein: nach Hause.
Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte kein klares Bild von ihrem Zuhause und ihren Eltern heraufbeschwören. Stattdessen schien alles, was ihr im Kopf aufblitzte, fern und nebulös,wie hinter einer dünnen Schicht versteckt, und sie hatte Mühe zu sagen, woran das lag, auch wenn sie wusste, dass es ihr Angst einflößte.
Sie spürte den Schub, als er Gas gab, und schloss die Augen, um sich in ihren neuen Alptraum zu fügen.
9. KAPITEL
Noch eine ganz normale Sitzung der Lost Boys
14.
Martin Jeffers war wach und allein, auch wenn er von lebhaften Erinnerungen heimgesucht wurde. Als sie klein gewesen waren, hatte sein Bruder einen Falken mit einem gebrochenen Flügel gefunden. Der Sommer, als er den Falken hatte, der Sommer, als jemand ertrunken ist. Einen Augenblick wunderte er sich darüber, dass er an den Vogel denken musste, wo doch in diesem Sommer viel wichtigere Ereignisse folgten. Doch die Bilder stiegen ungefragt in ihm auf. Doug hatte auf einem Feldweg einen Vogel gefunden, der jämmerlich mit einem hängenden Flügel über den Boden hüpfte. Zwei Wochen lang, entsann sich Martin Jeffers, verbrachte sein Bruder jede freie Minute damit, durch den Wald zu streunen, verrottete Baumstämme umzudrehen oder moosbewachsene Steine aufzuheben, um Insekten, Käfer, kleine Schlangen und Schnecken einzusammeln, die er aufopferungsvoll dem Vogel brachte, der sie herunterschlang und krächzend nach mehr verlangte. Martin Jeffers lächelte. So nannten sie den Vogel: Krächz. In ihrer bescheidenen Freizeit hatten sie sich in der örtlichen Leihbibliothek Dutzende von Büchern überVögel ausgeliehen, Abhandlungen über die Falknerei und Texte über Veterinärmedizin. Nach zwei Wochen machte es sich der Falke zum Fressen auf Dougs Schulter bequem, und Martin Jeffers erinnerte sich an den triumphierenden Gesichtsausdruck seines Bruders, als der Vogel sich auf den Lenker seines alten Fahrrads setzte und sich von ihm bis in die Stadt und zurück mitnehmen ließ.
Martin Jeffers legte die Hand auf die Stirn und schauderte.
Der alte Scheißkerl, dachte er. Doug hatte recht, wenn er ihn verachtete.
Ihr Vater hatte ihm befohlen, den Vogel loszuwerden.
Doug weigerte sich, ihn in einen Käfig zu sperren, und so war bald der Abstellraum, in dem er ihn hielt, von oben bis unten kotbedeckt. Das hatte den Drogisten erzürnt, und so hatte er den Jungen ein einfaches, schreckliches Ultimatum gestellt: »Sperrt ihn in einen Käfig oder
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