Der Fotograf
setzt ihn aus, sonst …« Das »Sonst« war das Unheimliche an der Sache. »Wenn der Flügel nicht heilt«, hatte sein Bruder protestiert, »dann stirbt er, sobald wir ihn freilassen.« Sein Bruder war vor Wut rot angelaufen. »Und man kann ein wildes Tier nicht in einen Käfig sperren!«, hatte Douglas Jeffers gebrüllt. »Dann stirbt er. Er nagt fassungslos und verzweifelt an den Gitterstäben, bis er stirbt.« Doug war wild entschlossen. Das war er immer. Martin Jeffers entsann sich, wie er mit seinen kürzeren Beinen rennen musste, um mit seinem Bruder Schritt zu halten. Wenn er wütend war, ist mein Bruder immer schnell gelaufen, dachte Martin Jeffers. Immer beherrscht, aber schnell.
Und so blieb der Falke hartnäckig auf der Schulter seines Bruders sitzen, grub ihm die Krallen in Hemd und Muskeln, und reckte den Schnabel stolz in den Wind, während Douglas Jeffers über den Teich ruderte, der ihr Haus von dem Pfad zum Meeresstrand trennte. Er hatte das Ruderboot ans Ufergezogen und einen Trampelpfad eingeschlagen. Sie waren auf eine weite Ebene mit sandigem Boden gekommen, auf der sie bis zu den Hüften in Seegras und Strandpflaumenbüschen standen. Das Meer lag direkt hinter einem hohen Dünenkamm etwa vierhundert Meter entfernt, und Martin Jeffers hatte das Gefühl, als hallten die Wellen tief in seiner Erinnerung wider. Das Gras wurde von einer kräftigen Brise zerzaust, und es kam ihm vor, als ob sein Bruder gegen eine starke Strömung anschwimmen würde. Die Nachmittagssonne schien ihnen sommerlich heiß auf den Kopf. Martin Jeffers sah, wie sein Bruder den Arm hob und den Vogel in die Höhe hielt, so wie er es in Bilderbüchern über die Falknerei im Mittelalter gesehen hatte. Dann versuchte er, das Tier in den Himmel zu werfen. Martin Jeffers sah, wie der Vogel in dem vergeblichen Versuch, sich in die Lüfte zu schwingen, wild mit den Flügeln schlug und wieder auf dem Arm seines Bruders landete. »Es geht nicht«, hatte sein älterer Bruder gesagt. »Der Flügel wird nicht wieder.«
Dann hatte er hinzugefügt: »Ich hab’s gewusst.«
Sonst sagte er nichts. Schweigend trotteten sie zu ihrem Boot zurück. Er ruderte schnell, mit dem Rücken zum Wind, als könnte er mit schierer Körperkraft an der Sachlage etwas ändern.
Plötzlich machten seine Gedanken einen Sprung zum darauffolgenden Morgen. Doug war vor ihm auf gewesen und hatte, mit zerzaustem Haar und aschfahlem, wutverzerrtem Gesicht plötzlich an seinem Bett gestanden. »Krächz ist tot«, hatte sein Bruder berichtet.
Der alte Scheißkerl hatte den Vogel getötet, während sie geschlafen hatten. Er war in die Abstellkammer gegangen, wo er sich das arme, treuherzige Ding geschnappt und ihm den Hals umgedreht hatte.
Martin Jeffers stieg angesichts der unabweislichen Kindheitserinnerung die blanke Wut hoch.
»Er war schlichtweg ein grausamer, herzloser Mann, und ich war heilfroh, als er bekam, was er verdiente. Ich wünschte mir nur, es hätte mehr wehgetan!«
Er entsann sich, wie er diese Worte seiner eigenen Therapeutin entgegengeschleudert hatte, die in einem provozierend ruhigen Ton nachgehakt hatte, ob das stimmte. Natürlich stimm te es! Er hat den Vogel getötet! Er hat uns gehasst! Von Anfang an. Das war das Einzige, worauf bei ihm Verlass gewesen war. Das und dass er seinen Willen durchsetzte. Am liebsten hätte er sich nachts in unser Zimmer geschlichen und uns den Hals umgedreht!
Martin Jeffers erinnerte sich, wie er auf den toten Vogel in der Hand seines Bruders gestarrt hatte.
Kein Wunder, dass er ihn so sehr hasste. Mit einem solchen Hass wird man nicht geboren. Den entwickelt man über einen langen Zeitraum hinweg durch Grausamkeit und Vernachlässigung. Zuerst stirbt jede Liebe und Zuneigung. Das hatte er zu seiner Therapeutin gesagt. Er hatte die Frau, die hinter seinem Kopf saß, so dass er sie nicht sehen konnte, gefragt: Wenn Sie so einen Vater gehabt hätten, würden Sie dann nicht auch einen Beruf ergreifen wollen, bei dem Sie sich um andere Leute kümmern? Anderen helfen können? Weshalb sonst bin ich wohl hier, verflucht noch mal?
Natürlich hatte die Therapeutin nichts gesagt.
Die Erinnerungen, die in Martin Jeffers brodelten, stiegen in ihm auf wie der Dampf in einem geschlossenen Kessel. Scheißkerl. Scheißkerl. Scheißkerl.
An dem Abend hatte niemand ein Wort gesprochen. Keiner hatte erwähnt, was geschehen war. Wir saßen alle am Esstisch und taten so, als wäre nichts gewesen.
Er entsann sich, wie ihre
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