Der Fotograf
war ungeduldig, eine miserable Voraussetzung für eine unspezifische Durchsuchung. Sie ignorierte die Erkenntnis und warf die Zeitung zu den übrigen Sachen. Dann schobsie die beiden Schachteln genau dahin zurück, wo sie sie vorgefunden hatte.
Bis jetzt nichts.
Sie ging ins Wohnzimmer und sah eine Steppdecke auf einem Sessel. Da hat er letzte Nacht geschlafen, dachte sie. Falls er schlafen konnte.
Sie registrierte, dass rund um den Sessel Zeitschriften über den Boden verstreut waren. Er hat also versucht, auf andere Gedanken zu kommen. Na ja, hat sicher nicht geklappt. Sie wollte gerade weitergehen, als sie merkte, dass irgendetwas mit dem Zeitschriftenstapel nicht stimmte. Sie drehte sich noch einmal um.
»Was ist los?«, flüsterte sie. »Was?«
Sie blickte genauer hin, dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf: Alte Nummern. Pass doch auf, verdammt!
Sie ging noch einmal hin und kniete sich neben den Haufen. Sie nahm eine sechs Monate alte Ausgabe von
Life
in die Hand. Sie wusste, was sie auf den Innenseiten erwartete. Sie ließ das Magazin wie einen Fächer aufflattern und sah augenblicklich, worum es ging – die Urheberangabe sprang ihr entgegen: FOTOS VON DOUGLAS JEFFERS. Sie betrachtete die Seite und sah das körnige Grau des Bildes. Es stammte aus einer Notaufnahme und zeigte einen Arzt, der dem Be trachter erschöpft entgegenstarrte. Die Kameralinse war dem Mann so nah herangerückt, dass Detective Barren das Blatt unwillkürlich weiter von sich streckte.
Ich weiß, wonach er gesucht hat, dachte sie. Im Geist sah sie den Doktor im Sessel vor sich, wie er Seite um Seite betrachtet, um herauszufinden, was die Bilder ihm sagten.
Rasch breitete sie die Zeitschriften um sich aus und blätterte jede einzelne nach Fotos durch. Menschen und Gegenstände sprangen ihr geradezu entgegen.
Doch neue Erkenntnisse blieben aus.
Er ist gut, dachte sie. Aber das ist ja nicht neu. Wir wussten schon, dass er zu den Besten gehört.
Aber was verraten die Bilder noch?
Einen Moment lang war sie genauso frustriert wie zweifellos der Bruder ein paar Stunden zuvor. Es ist so viel auf ihnen zu sehen, dachte sie, aber sie geben so wenig preis.
Sie klappte das letzte Heft zu und arrangierte die Magazine ungefähr so, wie sie vorher gelegen hatten.
Finde endlich etwas!, befahl sie sich vorwurfsvoll.
Sie ging zum Schreibtisch, warf einen Blick darauf und sah die Worte: Dougs Wohnungsschlüssel. Der Umschlag lag so offen vor ihr, dass sie einen Moment brauchte, um zu begreifen, womit sie es zu tun hatte. Dann schoss ihre Hand wie von selbst hervor und schnappte sich ohne einen bewussten Willensakt den Umschlag. Sie fühlte den Schlüssel durchs Papier, legte den Kopf zurück und konnte nur mühsam einen Jubelschrei unterdrücken. Sie stopfte den Brief in ihre Tasche und streckte wie ein Athlet im Siegestaumel die geballten Fäuste in die Höhe. Der Jubel wich schnell dem Gebot der Selbstdisziplin. Reiß dich zusammen, dachte sie wütend. Dann durchzuckte sie in Panik der Gedanke: Die Adresse, ich brauche die Adresse. Sie sah sich im Zimmer um und entdeckte neben dem Telefon ein schwarzes Büchlein. Sie sprang hin und schlug es auf. Die Upper-Westside-Adresse des Bruders in Manhattan starrte ihr in schwarzer Tinte entgegen. Sie sah sich nach einem Stift und einem Fetzen Papier um, fand aber weder das eine noch das andere. Sie riss die Seite aus dem Buch.
Vor Aufregung war ihr heiß. Sie ging zur Haustür, öffnete sie, drehte sich noch einmal um und verließ das Gebäude.
Sie konnte an nichts anderes denken als an das elektrisierende Gefühl, das von dem Schlüssel in ihrer Tasche ausging.
Auf der Straße vor dem Wohnhaus kam sie an einer älteren Dame vorbei, die ihren Hund ausführte und sich mit einem altmodischen Schirm gegen die aufgehende Sonne schützte.
»Guten Morgen«, grüßte die Frau beschwingt.
»Wird ein prächtiger Tag«, erwiderte Detective Barren.
»Aber heiß«, vermutete die Dame. Ihr Blick fiel auf den Sheltie am Ende ihrer Hundeleine. »Hundstage«, meinte sie. »Im Sommer einfach zu heiß. Und im Winter zu kalt. Ist es nicht immer so im Leben?«
Das war als Witz gemeint, und beide Frauen schmunzelten. Detective Barren nickte ihr zum Abschied noch einmal zu und überquerte die Straße. Einen Moment lang war sie von der wohligen Wärme des spätsommerlichen Morgens und der alltäglichen Unterhaltung mit der Frau überwältigt. Alles ist normal, dachte sie. Alles ist einfach und gewöhnlich
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