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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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gesagt!
    Tausend düstere Gedanken plagten Jeffers.
    Wasserman reagierte prompt auf Meriwethers Frage:
    »Meine Mom ist genauso. Ich krieg jede Woche ein Päckchen von ihr. Sie hat nichts geglaubt. Ich hätte ein Mädel direkt unter ihrer Nase umbringen können, und sie hätte gesagt: ›Hör mal, Schätzchen, wie’s aussieht, hast du sie zu hart rangenommen, und jetzt hat sie einen Herzinfarkt und ist in den Himmel gekommen …‹«
    Jeffers registrierte, dass Wasserman für einen kurzen Moment nicht gestottert hatte. Mein Bruder, dachte er, war immer direkt und ausweichend zugleich. Er hat mir stets nur so viel gesagt, wie ich seiner Meinung nach wissen musste. Seiner Meinung nach! Und wenn ich jetzt etwas wissen muss, stoße ich in ein Loch. Leere! Nichts!
    Doch dann sagte er sich: Du weißt es sehr wohl.
    Er schüttelte den Kopf. Was denn bitte schön?
    Die Männer rings um ihn schnaubten und johlten.
    »M-m-m-manchmal hab ich gedacht, M-M-M-Mom ist verrückter als ich.«
    Die Lost Boys nickten zustimmend. Jeffers registrierte, wie das Stottern wiederkehrte.
    Pope schaltete sich im sonoren Ton des altgedienten Knastbruders ein: »Sie wollen es nie wahrhaben. Die wollen nicht mal glauben, dass du es fertigbringst, einen Schokoriegel aus einem Regal zu klauen. Je schlimmer unsere kriminellen Handlungen, desto stärker leugnen sie. Und wenn man dich fürs Vögeln einbuchtet, so wie uns, dann weisen sie alles weit von sich. Es ist leichter für sie, was anderes zu glauben. Viel leichter.«
    »Nicht immer«, warf Miller ein.
    Die Männer wandten sich dem hartgesottenen Berufskriminellen zu.
    Miller sah sich im Zimmer um, als begutachtete er ein gestohlenes Juwel. »Überlegt mal. Bei jedem von uns hat es einen gegeben – wahrscheinlich einen Vater, vielleicht eine Mut ter –, der gewusst hat, was wir sind, und der uns dafür gehasst hat. Jemand, der sich nichts vormachen ließ. Jemand, der dich vielleicht verprügelt hat oder der dich verlassen hat, wenn er dich nicht schlagen konnte. Jemand, der sich aus dem Staub gemacht hat, solange es noch ging …«
    Über diese Bemerkung musste Miller lachen, doch die anderen Männer waren verstummt und hingen ihren eigenen Gedanken nach.
    »Vielleicht jemand, den ihr loswerden wolltet. Vielleicht jemand, den ihr tatsächlich losgeworden seid, auch wenn es der gute Onkel Doktor hier und die entsprechenden Behörden« – das Übrige schnaubte er heraus – »nicht so genau wissen.«
    Er schwieg, und Jeffers sah, dass er an seiner Meinungsäußerung Gefallen fand, während die gedrückte Stimmung der anderen nicht zu übersehen war.
    »Es gibt immer jemanden, der genau erkennen kann, was wir im Grunde unseres Wesens sind. Ist eigentlich keine große Sache. Musst denjenigen nur ein bisschen anders anpacken, stimmt’s? Aber es gibt ihn irgendwo da draußen. Das wissen wir doch alle.«
    Es kam Gemurmel auf, das wieder verstummte.
    Jeffers wollte die Frage, die ihm unter den Nägeln brannte, herunterschlucken, doch vergeblich: Seine Gedanken hatten ein Eigenleben entwickelt und waren nicht mehr im Zaum zu halten.
    Das machte ihm Angst, doch es ging mit ihm durch, und so spuckte er seine Frage aus: »Also gut, dann betrachten wir esdoch einmal von der anderen Seite: Was würden Sie machen, wenn Sie plötzlich erführen, dass jemand, den Sie lieben, sagen wir, ein Familienmitglied, Verbrechen begeht? Wie würden Sie reagieren?«
    Es herrschte eine kurze Pause, als hätten die Lost Boys alle gleichzeitig tief Luft geholt. Dann ertönte mit einem Schlag eine Kakophonie der unterschiedlichsten Meinungen.
     
    Detective Mercedes Barren fuhr Richtung Norden, an der Ausfahrt des New Jersey Turnpike zum Holland Tunnel vorbei, der die direktere Route darstellte. Sie steuerte die George Washington Bridge an, die sich mit ihrer grauen Masse über den Hudson spannte. Trotz der Aufregung und trotz des erdrückenden Gefühls, dass ihr die Zeit davonlief, entschied sie sich bewusst dafür, den Tunnel zu meiden. Um Tunnel machte sie grundsätzlich einen großen Bogen, wenn sie konnte. Seit ihrer Kindheit machte ihr das Gewicht der Wassermassen, das auf den Zement und die Kacheln über ihrem Kopf drückte, Angst. Bis heute sah sie mit der lebhaften Phantasie eines Kindes vor sich, wie es knackte und einbrach und wie sich plötzlich das dunkle Wasser über sie ergoss. In der Enge des Tunnels wurde ihr Atem flach, und ihre Hände fühlten sich unangenehm feucht an. Es ist wie ein harmloser Anfall

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