Der Fotograf
von Klaustrophobie, dachte sie. Was soll’s, musst du dir schließlich nicht antun.
Während sie aufs Gas trat und über die Brücke fuhr, warf sie einen kurzen Blick über die Schulter, die Palisades hinauf. Sie sah, wie die Kliffs steil ins Wasser hinabstürzten. Auf der Wasseroberfläche glitzerte die Sonne, und sie erhaschte einen Blick auf weiße Segel, die in beide Richtungen dahinglitten. Besonders an strahlenden Tagen wie diesem hatte sie immer gut verstehen können, wieso Henry Hudson, als er das ersteMal den großen Strom entlangtrieb, davon überzeugt gewesen war, er hätte die Nordwestpassage entdeckt. Wenn man sich die Gebäude und die Boote wegdachte und nur den unverfälschten Fluss mit den Kliffs vor Augen führte, schien es vollkommen logisch, dass jemand hinter einer der nächsten Biegungen China vermutete.
Sie starrte auf die Stadt mit ihrer gewaltigen Phalanx von Wolkenkratzern, die wie Soldaten einer großen Armee strammstanden und sich in den Himmel reckten. Sie nahm den Zettel mit der Adresse und schlängelte sich aggressiv durch den Verkehr. Sie blickte starr geradeaus, als sie in Manhattan eintraf, und weigerte sich sogar, in den Rückspiegel zu schauen, so stark waren ihre Gedanken auf ihr Ziel fokussiert.
Zu ihrer Überraschung entdeckte sie kaum einen Häuserblock von der Wohnung entfernt eine ganz legale Parkmöglichkeit. Doch bevor sie das letzte Stück zu der Adresse zu Fuß ging, machte sie in einem lokalen Delikatessengeschäft halt und kaufte eine wild zusammengewürfelte Auswahl an Lebensmitteln. Die Tüte zusammen mit dem Schlüssel in der Hand, begab sie sich auf den Weg zu Douglas Jeffers’ Wohnung.
Diese lag in einem älteren Klinkerbau von mittlerer Größe an der West End Avenue. Ein ältlicher Türsteher hielt ihr die Tür auf, während sie hereinmarschierte.
»Sie wollen zu wem?«, fragte er mit kratziger Raucherstimme.
»Wohne bei meinem Cousin, während ich mir die Stadt ansehe. Er ist verreist«, erzählte sie beschwingt. »Doug Jeffers. Er ist der beste Fotograf …«
Der Türhüter lächelte.
»4 F«, sagte er.
»Ich weiß«, erwiderte sie und warf ihm ein Lächeln zu. »Bis dann.«
Sie stieg in einen alten Fahrstuhl, schloss die Tür fest hinter sich und drückte die Vier. Sie sah, dass sich der Wachmann schon wieder umgedreht hatte. Der Fahrstuhl quietschte bei seinem langsamen Aufstieg. Er schien am Ende einen Satz zu machen, und sie trat vorsichtig in den Flur.
Zu ihrer großen Erleichterung begegnete sie keinem Menschen.
Sie fand 4-F sofort und stellte die Lebensmitteltüte ab. Sie wechselte den Schlüssel in die linke Hand und zog die Neunmillimeter aus der Tasche. Einen Moment lang horchte sie, konnte aber durch die dicke schwarze Tür nichts wahrnehmen.
Sie holte tief Luft und befahl sich: Geh schon!
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Sie hörte, wie der Schließriegel nachgab, und drückte fest zu.
Die Tür ging auf, und sie sprang geduckt hinein.
Immer noch vorgebeugt, schwang sie die Pistole hoch und drehte sich zusammen mit dem Lauf in alle Richtungen. Rechts, links, geradeaus war niemand zu sehen. Sie wartete. Kein Laut zu hören. Sie richtete sich auf und ließ die Waffe sinken. Dann holte sie die Lebensmitteltüte und stellte sie in der Wohnung auf den Boden. Sie machte die Tür zu und schloss hinter sich ab. Sie legte auch die Kette vor.
Dann drehte sie sich um und betrachtete, immer noch die Pistole im Anschlag, zum ersten Mal Douglas Jeffers’ Wohnung.
»Ich spüre es förmlich«, sagte sie. Plötzlich brach eine Flut von Bildern über sie herein – all die Fundorte mit blutverschmierten, verwesenden Leichen, die sie im Lauf der Jahre zu Gesicht bekommen hatte. Sie stiegen vor ihrem geistigen Auge auf wie eine Parade des Grand Guignol. Der makabre Anblick und der stickige, schreckliche Geruch ließen sichnicht verdrängen, und sie glaubte für einen Moment, sie müsse hier in der Wohnung auf eine Leiche stoßen.
Sie schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, und sprach mit sich selbst: »Na schön, sehen wir uns mal um.«
Immer noch die Pistole in der Hand, lief sie von einem Zimmer zum nächsten. Als sie sich endlich davon überzeugt hatte, dass sie tatsächlich alleine war, machte sie sich an eine erste Bestandsaufnahme. Zunächst fiel ihr auf, wie sauber und ordentlich es war. Alles schien an Ort und Stelle. Nicht so durchorganisiert, dass es schon wieder ungemütlich war, doch tipptopp.
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