Der Fotograf
genug. Ich meine Menschen, die sich in den eigenen Tod fügen. Die zu den schlimmsten Dingen, die ihnen passieren, ihren freiwilligen Beitrag leisten.
Sie sind in wohlgeordneten Reihen in die Gaskammern marschiert. Offenbar hat keiner von ihnen jemals gesagt: ›Du kannst mich mal! Ich geh da nicht rein!‹, und sich für einen Moment an seine eigene menschliche Würde geklammert. Oder hast du gewusst, dass die Briten am ersten Tag der Schlacht an der Somme sechzigtausend Mann verloren haben? Und obwohl sie das wussten, sind die Soldaten auf den Kommandopfiff am nächsten Tag zum Sturmangriff ins Sperrfeuer und in die befestigten Stellungen gelaufen. Das war 1916. Die moderne Welt! Unfassbar!
Im Todestrakt werden die Gefangenen in ihrer letzten Nacht vor der Exekution genau überwacht. Es wird befürchtet, dass sie eine Möglichkeit finden, sich selbst umzubringen. Der Staat«, erklärte er in bitterem Ton, »lässt sich nicht gern übers Ohr hauen. Was würde es denn schon für einen Unterschiedmachen? Letztlich ist Selbstmord der größte Befreiungsschlag. Offenbar lernen wir nicht von den verdammten Walen. Sie sind krank; woran sie leiden, wissen wir einfach nicht. AIDS für Wale, was weiß ich. Also verkürzen sie einfach das Sterben. Sie nehmen ihr Leben in die Hand, behalten die Kontrolle und treffen ihre Entscheidung. Und wir fragen uns, wieso. Unerklärlich, sagen die Wissenschaftler. Sie geben sich verblüfft. Das eigentlich Unerklärliche ist, dass wir nicht begreifen, weshalb sie es tun, wo es doch so offensichtlich ist.«
Jeffers beschleunigte seine Schritte. Er schüttelte den Kopf.
»Boswell«, meinte er in einem Ton, der verloren klang, »ich bringe zwei unterschiedliche Themen durcheinander. Es wird an dir liegen, sie richtig zu sortieren.«
Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Eigentlich geht es bei der heutigen Lektion um Einwilligung ins Unvermeidliche. Lemminge. Pass auf, und du wirst sehen, wie die Menschen die Mittel ihres Ablebens willkommen heißen. Bemerkenswert. Das erinnert mich an diese Geschichte mit dem Fotografen aus Florida. Weißt du noch? Ist erst ein paar Jahre her. Er hieß Wilder, was die Nachrichtenredaktionen vermutlich zu einer Menge Wortspielen angeregt hat. Na, jedenfalls greift sich der Kerl bei einem Grand-Prix-Rennen in Miami ein Mädchen, dann das nächste, ich glaube, oben in Daytona. Und so macht er eine Cross-Country-Tour und bringt eine nach der anderen um. Jedes Mal mit derselben Taktik: Er besucht ein Sportereignis oder auch eine Shopping Mall, zückt die Kamera und fängt an, Mädchen zu fotografieren. Früher oder später kommt eine mit ihm mit, und eh sie sich versieht, sitzt sie bei ihm im Wagen und …«
Er sah Anne Hampton von der Seite an.
»Den Rest kannst du hinzufügen.«
»Ich erinnere mich«, sagte sie.
»Aber weißt du, was das eigentlich Faszinierende daran war?«, fuhr Jeffers fort. »Alle haben es gewusst! Das FBI, die örtliche Polizei, die Zeitungen, die Fernsehsender, einfach alle! Wilders Foto flimmerte über jeden Sender, prangte auf jeder Titelseite, an jedem Bahnhof. Sein Modus operandi wurde beschrieben, diskutiert, analysiert, was weiß ich. Der Kerl war allgegenwärtig! In einer Popkultur gehört so etwas dazu. Es gab kein gepflegtes Abendessen, bei dem er nicht Gesprächsstoff war, kein angeregtes Getuschel auf der Highschool-Toilette, bei dem die Mädchen sich nicht zwischen zwei Zigarettenlängen ermahnt hätten: ›Wenn ein Kerl mit Bart dich fotografieren möchte, steig ja nicht zu ihm ins Auto!‹ Aber weißt du, was passiert ist?«
»Er ist gestorben.«
»Allerdings haben sich vorher noch ein halbes Dutzend Frauen mitnehmen und umbringen lassen. Bemerkenswert. Weißt du was? Er hat es nicht einmal für nötig gehalten, sich den Bart abzurasieren, der bei jeder Personenbeschreibung in jeder Zeitung besonders herausgestrichen wurde. Das ist nun wirklich ein Phänomen, das man genauer studieren sollte.«
»Ich glaube, er ist irgendwo im Nordosten gestorben.«
»Ja. New Hampshire. Da fahren wir auch bald hin.«
»Er wurde von einem Staatspolizisten erschossen, und das letzte Mädchen hat überlebt«, erinnerte sie sich mit Nachdruck.
»Er war dumm und unvorsichtig«, entgegnete Jeffers brüsk. Aber das letzte Mädchen hat überlebt, dachte sie.
Sie hatten die Haupttribüne erreicht. »Bleib dicht an mir dran«, wies Jeffers sie an. »Und sieh selbst, wie der Zaubertrick funktioniert.«
Und der Trick wirkte.
Zwischen
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