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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Er dachte an den Bruchteil einer Sekunde, der vergeht, während der erste Dominostein kippt und bevor er den nächsten umstößt.
    Dann rollte der Jeep über den Rand und stürzte ins Dunkel. Die Teenager waren aus seinem geistigen Sichtfeld verschwunden.
    Sobald er wusste, dass der Wagen unten aufgeprallt war, machte er kehrt. Er war überaus zufrieden. Er drehte sich nicht einmal um, als er die Druckwelle der Explosion zu spüren bekam.
    Er sah Anne Hamptons entsetztes Gesicht. In ihren weit aufgerissenen Augen spiegelte sich das Feuer hinter ihm. Er schritt mit der unbeirrbaren Selbstdisziplin von Lot auf den Wagen zu.
    Er warf das Gewehr in den Kofferraum und schlug ihn zu.
    Jeffers setzte sich hinters Lenkrad, legte bedächtig den Gang ein und gab mäßig Gas. In wenigen Sekunden fuhren sie erst um eine, dann um eine zweite Kurve der Straße.
    Anne Hampton drehte sich ruckartig auf dem Sitz herum und zitterte am ganzen Körper.
    »Ich hab’s dir gesagt«, erklärte Douglas Jeffers. »Das ultimative Highway-Spektakel.«
    Sie warf einen letzten Blick nach hinten und glaubte, den roten Widerschein vom brennenden Wrack zu erkennen. Sie wandte sich um und sah die Schilder, die die Interstate ankündigten. Schnell, dachte sie, bloß weg hier, bitte!
    Jeffers manövrierte sie durch die verschiedenen Auffahrten und gab auf der Durchgangsstraße Gas. »Wir sind«, sagte er, »eine Nation von Attentätern. John Wilkes Booth und LeeHarvey Oswald. Charles Whitman und der Texas Tower. Wir blicken auf eine reiche Tradition des Hinterhalts zurück.«
    »Sie hatten keine …«
    »Im Grunde nicht. Das ist bei einem Attentat entscheidend. Bei einem Hinterhalt in X-Formation oder L-Formation. Denk mal darüber nach. Guerillas, die in die Falle gehen. Hinterrücks gemeuchelt werden. Keine Aussicht auf Entkommen. Kein Schlupfloch. Das ist Sinn und Zweck der Übung.«
    Sie antwortete nicht. Nirgendwohin, dachte sie. Sie sah zu, wie die Scheinwerfer eine dünne Sichel ins Dunkel schnitten. Sechzig Stundenmeilen. Eine Meile pro Minute. Jede Sekunde führt uns weiter weg.
    »Wo fahren wir hin?«, fragte sie.
    Sie kannte die Antwort. Bis ganz ans Ende.
    »Zum Granitstaat«, erwiderte Jeffers. »Glücklicherweise hat unser kleines Abenteuer in Vermont stattgefunden, und bis irgendjemand begreift, wie es passiert ist – was übrigens nicht geschehen wird –, sind wir Schnee von gestern. Was für ein Schuss«, bewunderte er sich. Er schien immer noch freudig erregt. »Was für ein Schuss. Verdammt! Und weißt du, was die Cops denken werden? Nichts. Sie werden im Jeep ein paar Bierdosen finden, und das war’s. Ein Unfall, bis jemandem Bedenken kommen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und wer würde außerdem ein nett aussehendes Touristenpärchen verdächtigen?«
    Er sang: »We’ll be gone, gone, gone …«
    »Wieso Vermont?«, erkundigte sie sich zaghaft. »Können Sie nicht genauso gut jemanden in New Hampshire töten?«
    Er lachte. »Na ja, vor ein paar Jahrhunderten hatte der Teufel in Marshfield ein paar Unannehmlichkeiten, und seitdem hat er seine Tätigkeit auf den Nachbarstaat verlegt. Sozusagen vertraglich vereinbart. Also folge ich seinem Beispiel.«
    Er lächelte.
    »Aber das heißt nicht, dass wir nicht einen kleinen Abstecher machen können.«
    Er fuhr weiter.
     
    Die Morgensonne war grell, und Anne Hampton hielt die Hand über die Augen. Einen Moment lang erinnerte das Licht sie an Florida, und sie sah sich unwillkürlich nach einer Palme um, die in der leichten Brise raschelte. Sie starrte die Hauptstraße von Jaffrey, New Hampshire, hinunter und fragte sich, ob sie alles nur geträumt hatte. Sie versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern; da war die Angst, als sie beinahe von der Straße abgekommen waren; da war die Dunkelheit neben der Kurve; Jeffers, wie er mit dem Gewehr in die Nacht hinauslief; die krachenden Schüsse, gefolgt vom gedämpften Geräusch der Explosion. Wie ein Juwelier den Edelstein, nahm sie jede Facette ihrer Erinnerungen unter die Lupe. Bestimmt würde sie so auf eine Ungereimtheit stoßen und erkennen, dass es gar nicht passiert war. Irgendetwas würde deutlich machen, dass es nur ein Traum war, ein Stück geschliffenes Glas, in dem sich das Licht bricht.
    Sie schüttelte den Kopf und zwang sich, ihre Erinnerungen zu ordnen.
    Natürlich war es kein Traum. Sie dachte daran, wie sie sich letzte Nacht auf schweißgetränkten Laken hin und her geworfen hatte.
    Die Träume sind viel schlimmer, stellte sie

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