Der Fotograf
nach, fing von vorne an. Sie versuchte, vorauszusehen, in welchen Schwachstellen die Pflichtverteidiger stochern würden, die für Sadegh Rhotzbadegh bestellt worden waren. Sie schickte den Staatsanwälten Memos mit jedem noch so kleinen Gesichtspunkt, über den sie gegrübelt hatte, um einen persönlichen Besuch oder zumindest einen Anruf folgen zu lassen, bis sie davon überzeugt war, dass die von ihr entdeckte Lücke in der Beweiskette geschlossen war. Sie wusste, dass sie ihnen mit ihrer Pedanterie höchst lästig fiel, doch sie hatte schon zu oft gesehen, wie die Staatsanwaltschaft aus Mangel an Umsicht und Nachdruck Prozesse verloren hatte, und sie war entschlossen, das zu verhindern.
Als sie die Beweislage so oft gedreht und gewendet hatte, dass ihr nichts Neues mehr dazu einfiel, machte sie sich regelmäßige Besuche im Bezirksgefängnis zur Gewohnheit, wo der libanesische Student im Hochsicherheitstrakt in einer Einzelzelle untergebracht war. Sie bahnte sich ihren Weg durchelektronische Schließvorrichtungen, durch Korridore, deren düsteres Grau von den Verbrechen der einsitzenden Männer zu zeugen schien, durch Metalldetektoren und an einem Schild vorbei, auf dem in großen Lettern stand: UNBEFUGTER ZUTRITT ZUM WESTFLÜGEL VERBOTEN. ZUWIDERHANDLUNGEN WERDEN STRAFRECHTLICH VERFOLGT. Im Flur vor der Zelle des Libanesen zog sie sich einen Stuhl heran, um ihn einfach nur zu beobachten. Als sie das zum ersten Mal tat, hatte er gelacht und ihr Obszönitäten an den Kopf geworfen. Als er sie damit nicht beeindrucken konnte, hatte er sich entblößt. Einmal hatte er die Gitterstangen der Zelle gepackt, hatte gespuckt und getobt und versucht, hindurchzugreifen, um sie zu packen. Irgendwann hatte er sich an eine Stelle hinter der Toilette verkrochen und nur gelegentlich in den Flur gespäht, um zu sehen, ob die Polizistin noch da war. Sie achtete peinlichst darauf, weder mit ihm zu sprechen, noch auf irgendetwas zu reagieren, das er sagte. Sie hoffte, ihm mit der Wucht ihres Schweigens Angst zu machen.
Sie erzählte niemandem von diesen heimlichen Besuchen, und das Gefängnispersonal, das wusste, was sie hertrieb, vermerkte ihre Besuche nie auf einem offiziellen Formular. Das sei, ließ sie der Chef des Sicherheitstrakts wissen, das Mindeste, was sie tun konnten.
Sie kam zu den Anhörungen zur Beweisaufnahme, in denen die Verteidigung versuchte, die im Haus des Studenten sichergestellten Beweisstücke aus dem Verfahren auszuschließen. Sie saß in der ersten Reihe und starrte dem Angeklagten mit einem bohrenden Blick auf den Rücken. Sie wusste, dass er es spürte, und es erfüllte sie mit großer Genugtuung, wenn sie sah, wie er unruhig wurde und sich ab und zu nach ihr umdrehte, so dass sich ihre Blicke trafen. Die Beweisstückewurden zugelassen. »Saubere Arbeit«, flüsterte sie ihrem Freund Fred, dem Detective vom Bezirkspräsidium, nach seiner Aussage zu. »Peanuts«, wisperte er zurück und verließ den Saal.
Sie war auch zur Verhandlung über Sadegh Rhotzbadeghs Schuldfähigkeit zur Stelle. Sie hörte die Argumentation der Verteidiger, wonach ihr Mandant unter stressbedingten Kompensationsstörungen litt, worauf zu ihrer Erleichterung der Richter erwiderte, das sei normal, wenn einem die Todesstrafe drohe.
Monate vergingen, es wurde Winter in Miami. Sobald die drückende tropische Hitze gewichen war, schien die Luft bei Tage klarer.
Abends saß Detective Barren auf ihrer Veranda und genoss die kühle Brise. Sie dachte fast ausschließlich an den bevorstehenden Prozess; das Einzige, was sie sich als kleine Abwechslung gönnte, war eine Eintrittskarte für einen der hinteren Ränge im alten Orange Bowl, wo sie mit den Füßen stampfte, den Dolphins laut zujubelte und mit einem weißen Taschentuch wedelte, während ihre Mannschaft das Spiel genau nach Plan absolvierte. Als sie jedoch an einem tristen Tag mit einem Wetter wie in New England – steter Nieselregen und kalter Wind – die Verbandsmeisterschaft verloren, erfasste Detective Barren auf ihrem nicht überdachten Platz inmitten der sonnenverwöhnten, hemdsärmeligen Zuschauermenge eine schreckliche innere Kälte. Als Fan stirbt man einen kleinen Tod, dachte sie. Niederlagen und Verluste sind unvermeidlich, aber dennoch schrecklich. Bei jedem Spiel, das sie sich ansah, ging es letztlich darum, das Elend des Besiegten zu spüren. An diesem Abend trank sie vor dem Schlafengehen fast eine ganze Flasche Wein. Sie erwachte mit einem Katerund der
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