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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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schlürfte. Jeffers hatte blitzschnell sein Bein um das spröde Knie des Obdachlosen gehakt und es ihm mit einem Ruck verdreht. Es knirschte im Gelenk, während der Mann sich an den Tisch klammerte; er wollte gerade vor Schmerz aufschreien, als Jeffers’ leise Warnung ihn davon abhielt: »Ein Wort, ein Schrei, ein Hilferuf, und ich brech dir die Knochen, so dass du diesen Winter da draußen krepierst, verstanden?«
    Als Jeffers losließ, verzog sich der Mann hastig, und wenig später, gerade als er den Rest der Suppe mit einem Stück klebrigem Weißbrot auswischte, hörte Jeffers draußen Sirenen, eine ganze Menge davon, die näher kamen und einen Häuserblock weiter verstummten. Er hatte seine Kameratasche geschnappt und war zu dem schäbigen Mietshaus gelaufen, in dem es brannte. Familien reichten den Feuerwehrmännern vor Panik schreiende Kinder durch die Fenster, und Jeffers hatte im Nu alles auf Zelluloid gebannt. Verkauft hatte er ein Bild von einem Rettungsmann, dem Eiszapfen von Helm und Jacke hingen und der ein verängstigtes, sechsjähriges Kind in eine Decke gehüllt aus der Gefahrenzone schaffte. Der Bildredakteur des
Plain Dealer
war zuerst misstrauisch gewesen, hatte Jeffers aber schließlich erlaubt, die Dunkelkammer zu benutzen. Die Ausbeute an Nachrichten war an diesem Tag bescheiden gewesen, und er war auf ein kleines Kunstwerk für die erste Seite des Lokalteils erpicht.
    Jeffers wusste noch genau, wie behutsam er in der Dunkelkammer vorgegangen war, wie unendlich vorsichtig er die Chemikalien gemischt und den Abzug in der Entwicklerflüssigkeit geschwenkt hatte, bis das Bild Gestalt annahm. Den Augen verdankte er es, dass er das Bild verkaufte – die gütige Mischung aus Erschöpfung und Jubel im Gesicht des Rettersim Gegensatz zum aufgestauten Entsetzen im Blick des Kindes. Es war eine starke Fotografie, und der Redakteur plazierte sie auf der Titelseite.
    »Verdammt guter Schnappschuss«, sagte der Mann. »Fünfzig Dollar. Wohin sollen wir den Scheck schicken?«
    »Ich bin auf der Durchreise.«
    »Keine Adresse?«
    »Das YMCA.«
    »Und wo soll’s hingehen?«
    »Kalifornien.«
    »Alle wollen ins Lotusland.« Er seufzte. »Freie Rede, freie Liebe, Orgien und Drogen, Haight-Ashbury und Acid Rock.« Er lachte. »Verdammt, klingt gar nicht mal so schlecht.«
    Dann zückte der Redakteur seine eigene Brieftasche und reichte ihm zwei Zwanziger und zwei Fünfer. »Hätten Sie nicht Lust, ein bisschen zu bleiben und noch ein paar Fotos für uns zu machen? Ich bezahle Sie.«
    »Wie viel?«
    »Neunzig die Woche.«
    Er dachte: Cleveland ist kalt. Also sagte er es auch.
    »Cleveland ist kalt.«
    »Detroit und Chicago genauso. New York ist lausig, und Boston können Sie gleich vergessen. Junge, wenn Sie’s warm haben wollen, gehen Sie nach Miami oder L. A. Wenn Sie Arbeit brauchen, versuchen Sie’s hier. Verdammt, ja, es ist Winter. Wissen Sie was? Sie kriegen fünfundneunzig, und ich kauf Ihnen einen Parka und lange Unterhosen.«
    »Und was soll ich fotografieren?«
    »Keine Blumenausstellungen. Keine Sitzungen der Industrieund Handelskammer. Nur was in der Art, wie Sie es gerade abgeliefert haben.«
    »Warum nicht?«, hatte Jeffers gesagt.
    »Großartig, mein Junge. Nur eins noch.«
    »Das wäre?«
    »Ich riskier was. Dieses Foto heute – falls sich das als ’n Zufallstreffer entpuppt, ich meine, falls ich nicht mehr von der Sorte zu sehen bekomme, na ja, dann sind Sie ruckzuck wieder auf dem Weg nach Kalifornien. Sie verstehen, was ich meine?«
    »Mit anderen Worten, ich soll Ihnen zeigen, was ich drauf hab.«
    »Genau. Sie versuchen’s trotzdem?«
    »Klar. Wieso nicht?«
    »Junge, mit der Einstellung werden Sie’s in dem Geschäft weit bringen. Und noch was. Cleveland ist eine Arbeiterstadt. Schneiden Sie sich die Haare.«
    Und so verbrachte er elf kurzgeschorene Monate in Cleveland.
    Er erinnerte sich: Ein Antikriegsdemonstrant, dem ein Arbeiter mit einem dicken Holzknüppel auf den Rücken schlug. Vom nächsten Häuserblock aus fotografiert, Belichtungszeit 1/250, Blende 16, mit Teleobjektiv. Die Körnigkeit hatte die Gewalt unterstrichen. Die Beerdigung eines Gangsters, bei der ein Bodyguard angesichts der Fotografen und Kameraleute explodierte. Jeffers hatte in rascher Abfolge geknipst und sich erst in letzter Sekunde weggeduckt, so dass er den Muskelprotz im schwarzen Anzug mit gebleckten Zähnen in Aktion einfangen konnte – mit hochempfindlichem Film, Belichtungszeit 1/1000 und Blende 2,4.

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