Der Fotograf
vier Collegejahre, doch in Wahrheit ist es viel mehr, es ist ein Monument für etwas viel Bedeutsameres: Dies ist der Ort, an dem ein Serienmörder zum ersten Mal richtig die Kontrolle verloren hat – der Anfang von seinem Ende.
Jeffers erinnerte sich an den kleinen Mann mit dem gewellten braunen Haar, den er bei seinem Fototermin in einem Gerichtssaal in Miami gesehen hatte – viele Monate nach der schrecklichen Nacht in dem Wohnheim der Studentinnen. Idiot!, dachte er.
Seine Erinnerung segmentierte die Erfahrung in einzelne Bilder. Klick! Der Mörder drehte sich um. Klick! Der Mörder sah ihn direkt an. Klick! Sie starrten sich gegenseitig in die Augen. Jeffers fragte sich, ob der Mann wohl über den Tellerrand seiner kleinen Show hinausblickte. Klick! Der Mörder öffnete den Mund und wollte etwas sagen, brachte es aber nur zu einem grimassenhaften, schiefen Lächeln. Klick! Der Mörder wandte sich wieder ab und gab mit süffisantem Grinsen ein paar unüberlegte Kommentare zu dem bevorstehendenVerfahren ab, mit denen er den Richter und die Geschworenen düpierte und den Ausgang unvermeidlich machte. Klick! Jeffers fing diesen hochnäsigen Ausdruck am Rande des rasenden Wahnsinns ein, bevor er wieder unter der blasierten Maske verschwand. Das war das Bild, das er für seine eigene Sammlung behielt.
Was für ein Idiot!, dachte er erneut.
Jeffers drehte es den Magen um, wenn er nur daran dachte – die Zeitungen hatten den Kerl wahrhaftig als intelligent bezeichnet!
Jeffers schüttelte heftig den Kopf. Was hat es mit Intelligenz zu tun, wenn man seine eigenen Emotionen nicht beherrschen kann? Wo bleibt die Selbstdisziplin? Wo bleibt die sorgfältige Planung, der Einfallsreichtum, wenn man mitten in der Nacht in ein vollbelegtes Wohnheim einbricht, um die Bewohnerinnen abzuschlachten? Außer Kontrolle. Im festen Griff der Gier. Schwäche, dachte Jeffers. Die primitive Zügellosigkeit eines Schuljungen, der sich auch noch etwas darauf einbildete.
Er entsann sich, wie wütend er selbst innerlich wurde, als seine Kollegen von der Presse und vom Fernsehen fassungslos darüber rätselten, dass ein artikuliert sprechender, gebildeter Mann zugleich ein Serienmörder sein konnte. Er sah aus wie einer von uns. Er redete wie einer von uns. Er agierte wie einer von uns. Wie konnte er in das Profil passen, das die Polizei beschrieb?
Jeffers spuckte wütend.
In Wahrheit, resümierte Jeffers, passte es vorne und hinten nicht.
Wie einfältig. Wie dämlich. Na schön, vielleicht war er intelligent, vielleicht wirkte er liebenswürdig.
Ob er auch den Todestrakt liebt?
Verdient hätte er ihn jedenfalls, fand Jeffers.
Vorsätzliche Dummheit.
Er stand auf und merkte erst jetzt, wie heiß es geworden war. Er beschloss, zur Mensa hinüber zu gehen und etwas zu Mittag zu essen, bevor er sich auf seinen entscheidenden Erkundungsgang begab und seine Pläne in die Tat umsetzte.
In der Mensa war es voll, laut und anonym. Jeffers trug sein Tablett zu einem Tisch in der Ecke und aß langsam, während er auf den vor ihm ausgebreiteten Plan und das Vorlesungsverzeichnis starrte und nur ab und zu einen verstohlenen Blick auf die bunte Schar Studenten warf. Er dachte darüber nach, wie sehr er sich treu geblieben war; er erinnerte sich noch gut an die wenigen Monate, die er am College verbracht hatte, bevor er das Studium hinwarf, um seine Laufbahn als Fotograf anzutreten. Er hatte seine Zeit mehr oder weniger genauso verbracht wie jetzt. Allein. Schweigend. Der stille Beobachter am Rande. Einer, der zuhört, statt zu reden. Er wusste noch, wie unbehaglich er sich in seinem Zimmer im Wohnheim gefühlt hatte, fernab der unbeschwerten Geselligkeit der Kommilitonen. Dort im Norden war es Winter gewesen, ein frostiger, trüber, grauverhangener Tag, der Schnee androhte. Er hatte seine Sachen in eine Reisetasche geworfen, seine Kameras geschultert, war bis ans Ende des Campus gelaufen und hatte als Zeichen seiner wiedergewonnenen Freiheit den Daumen gehoben, um quer durch die Nation Richtung Westen zu trampen. Bei der Erinnerung an diese Reise musste er schmunzeln: Bereits eine Woche, nachdem er losgezogen war, hatte er sein erstes Foto verkauft. Er wusste noch genau, wie er im Stadtzentrum von Cleveland in einer Suppenküche gesessen hatte. Er war wie immer allein gewesen; ein alter Penner hatte sich neben ihn gesetzt und versucht,unter dem Tisch sein Knie an dem seinen zu reiben und ihn anzumachen, während er fetttriefenden Eintopf
Weitere Kostenlose Bücher