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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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seltsam es doch war, dass jemand Experte in menschlichen Schwächen und Leiden werden konnte und es dennoch nicht schaffte, sein Wissen auf sich selbst anzuwenden.
    Er lachte sich aus. Du bist ein Lügner, dachte er.
    Und kein besonders guter.
    Er fragte sich, wieso der Besuch seines Bruders so viele Erinnerungen wachrief, doch dann räumte er ein, wie dumm die Frage war; natürlich löste der Besuch seines Bruders eine Welle der Selbstbeobachtung bei ihm aus.
    Ihm war heiß, und er merkte, dass die Sonne durch das Fenster direkt auf seine Brust schien. Er rutschte auf seinem Stuhl zur Seite, ohne dass es half, und verrückte ihn dann ein wenig.
    »Wisst ihr, was ich am meisten hasse?«, fragte einer der Lost Boys. »Wie irgendwelche Freaks in einer Sondershow behandelt zu werden, genau das.«
    Jeffers hob den Kopf, um zu sehen, wer gesprochen hatte. Er warf einen Blick auf Simon, den Anstaltspfleger, der bei den Lost Boys für Ordnung sorgte. Der Mann schien in der Sonne zu dösen und sich um die Unterhaltung nicht zu scheren. Simon war ein schwarzer Hüne, dessen Körper unter dem lose sitzenden Kittel der Pfleger gut versteckt war. Jeffers wusste auch, dass er einen schwarzen Gürtel in Karate besaß und professioneller Kickboxer gewesen war. Simons Gegenwart war die ultimative Abschreckung für Gewaltausbrüche.
    »Freaks, Freaks, Freaks, genau das sind wir«, meldete sich Meriwether zu Wort. Meriwether war ein schmächtiger, blasser Mann im mittleren Alter, der sein karges Einkommen einmal als Buchhalter verdient und sich schuldig bekannt hatte, die Tochter eines Nachbarn vergewaltigt zu haben. Erst nachdem er zu den Lost Boys gestoßen war, hatte Jeffers bei dem Mann eine zwanghafte Zuneigung zu Jugendlichen festgestellt. Meriwether stand auf der Liste der Zweifelhaften: Jeffers glaubte kaum, dass es bei dem einen Verbrechen, zu dem er sich bekannt hatte, geblieben war, und er bezweifelte auch, dass dieses Programm bei ihm etwas ausrichten konnte. Er vermutete, dass Meriwether eines Tages an einen Jungen geraten würde, der stärker war als er und der ihm für das Kleingeld in der Jackentasche die Kehle aufschlitzte. Jeffers dachte nicht daran, sich für seine unwissenschaftliche Spekulation zu schämen.
    »Ich kann es einfach nicht ab, wie sie uns anglotzen«, sagte Meriwether.
    »Dich«, warf Miller ein, der ihm im Kreis gegenübersaß. Miller war nicht nur Vergewaltiger, sondern auch ein verurteilter Krimineller. Zweimal hatte er Männer bei Kneipenschlägereien getötet und dreimal wegen tätlichen Angriffs, Raubs und Erpressung gesessen. Jeffers mochte ihn besonders wegen seiner offenen, gradlinigen Einstellung zu den Therapiesitzungen. Miller hasste sie. Dennoch stand er nicht auf der Liste der Zweifelhaften; Jeffers hielt es für möglich, dass der Mann lernte, nicht wieder zu vergewaltigen. Doch auch dann würde er ein Vollzeit-Krimineller bleiben.
    »Siehst du, Kleiner, die spüren was bei dir. Etwas Schleimiges direkt unter der Oberfläche. Das tun wir alle, Kleiner. Gibt dir zu denken, was?«
    Meriwether zögerte nicht: »Meinetwegen spüren sie etwas beimir, aber die müssen nur einen Blick in deine Visage werfen, und dann
wissen
sie’s. Du verstehst, was ich meine? Sie wissen es einfach.«
    Miller knurrte etwas, dann lachte er. Jeffers schätzte an ihm, dass er sich nicht so schnell provozieren ließ, auch wenn er sich fragte, wie viel Selbstbeherrschung der Kerl noch besaß, wenn er etwas getrunken hatte.
    Die anderen Männer, die in dem losen Kreis im Aufenthaltsraum zusammensaßen, lachten ebenfalls oder lächelten zumindest. Wright, Weingarten, Bloom, der offenbar eine Vorliebe für Jungen hatte; Wasserman, der mit neunzehn das Küken war und eine Highschool-Ballkönigin vergewaltigt hatte, weil sie nicht mit ihm hatte tanzen wollen. Pope mit zweiundvierzig der Älteste, ein behandlungsresistenter, bösartiger Mann mit grauen Haaren, Lastwagenfahrermuskeln und Tattoos. Jeffers schätzte, dass er weit mehr Verbrechen begangen hatte, als die Polizei ahnte. Meistens blieb er stumm, und er führte die Liste der Zweifelhaften an. Parker und Knight vervollständigten die Lost Boys. Sie passten zueinander – Akne im Gesicht, Wut im Bauch, Mitte zwanzig, beide Collegeabbrecher. Der eine war Programmierer, der andere Teilzeit-Sozialarbeiter gewesen. Sie verspotteten zwar vieles, würden jedoch irgendwann, hoffte Jeffers, begreifen, dass sie eine Chance im Leben hatten.
    Das Gelächter verebbte, und

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