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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Schmuck der alten Frau verkaufen wollten. Woran haben Sie also gedacht?«
    »Was weiß ich, verdammt noch mal.«
    Er verschränkte die Arme und sah geradeaus.
    »Geben Sie sich ein bisschen Mühe.«
    »Hören Sie, Doc, ich kann mich nur noch erinnern, dass ich stinksauer war. Hatte das Gefühl, dass alles komplett in die Hose ging. Ich war definitiv in einer ganz miesen Stimmung. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich alles zum Kotzen fand. So sehr, dass ich am liebsten geschrien hätte. Ich wollte jemandem wehtun, wissen Sie? Weiter nichts. Jemand anderem so richtig wehtun. Das brauchte ich dringend. Tut mir leid, dass mir das alte Mädchen da gerade in die Quere kam. Aber sie war nun mal da, und ich brauchte das in dem Moment. Kapiert? Fühlen Sie sich jetzt besser?«
    Jeffers lehnte sich zurück. Für einen Neuling, dachte er, mach ich mich gar nicht so übel.
    »Na schön«, meinte er. »Reden wir über Wut. Will jemand was sagen?«
    Es trat kurzes Schweigen ein, bevor Wasserman, der stotterte, sagte: »M-m-manchmal hab ich das Gefühl, dass ich immer wütend bin.«
    Als er die Antwort eines anderen Mannes in der Runde hörte, schlug Jeffers die Beine übereinander. »Wütend worauf?« Die Sitzung dauerte nur noch wenige Minuten, und Jeffers wusste, dass die Gruppendynamik sie ohne sein Zutun füllen würde; Wut war stets ein fruchtbares Gesprächsthema. Alle Lost Boys waren wütend. Damit kannten sie sich aus.
    Er sah sich im Aufenthaltsraum um. Es war ein offenes, lichtund luftdurchflutetes Zimmer mit weißen Wänden und einer Fensterreihe, die den Blick auf die Sportplätze freigab. Das Mobiliar wirkte alt und schäbig, doch das war bei einer staatlichen Einrichtung nicht anders zu erwarten. An einer Wand lehnte eine zusammengeklappte Tischtennisplatte, die nur selten zum Einsatz kam. Irgendwann einmal hatte es auch einen Billardtisch gegeben, doch eines Tages hatte ein psychotischer Patient mit einem Queue zwei Pfleger krankenhausreif geprügelt, und so wurde der Tisch weggeschafft. Wenn ein Windstoß durch ein geöffnetes Fenster blies, flatterten Zeitschriften auf; der Fernseher schien verhext, er sendete nur Soaps und alte Filme. Es gab ein verstimmtes Klavier, an das sich immer mal wieder jemand setzte und hoffte, es würde sich durch unsichtbare Hand selbst stimmen. Das Klavier hat etwas mit den Patienten gemeinsam, dachte Jeffers. In der Hoffnung, eine Melodie zu finden, drücken wir immer wieder auf die Tasten, doch meistens endet es in einem Missklang. Jeffers mochte den Raum; er hatte etwas Stilles, Wohltuendes, und manchmal schien er Probleme regelrecht abzuwenden. Eine Prügelei passte einfach nicht hierher.
    Er glaubte nicht, dass er sich je mit seinem Bruder geprügelt hatte.
    Das war ungewöhnlich: Brüder kämpfen nun einmal miteinander, wieso sollte das bei ihnen anders gewesen sein? Doch sosehr er sich auch anstrengte, fiel ihm keine einzige Gelegenheitein, bei der sie in mörderischem Zorn aufeinander losgegangen wären – eine hemmungslose Rage, die im nächsten Moment verpufft.
    Er erinnerte sich noch an die Zeit, als Doug ihn mühelos am Boden festhalten konnte, indem er ihm die Arme auf dem Rücken verdrehte; doch das hatte er nur gemacht, damit Martin nicht ihrer Mutter nachjagte, die ihre Schulzeugnisse dem Drogisten zeigen wollte. Er hatte zum ersten Mal in einem Fach – Französisch – nicht bestanden und schämte sich dafür. Er erinnerte sich noch an den eisernen Griff seines Bruders, gegen den er machtlos gewesen war. Doug sagte nichts, sondern hielt ihn einfach nur fest. Er war sich nicht sicher gewesen, was er vorhatte – ob er ihr das Zeugnis aus der Hand reißen und vernichten wollte oder was auch immer. Er wusste nur, dass der Drogist außer sich sein würde, und da lag er richtig. Eine Woche lang jeden Abend in meinem Zimmer eingeschlossen. Aber das nächste Mal bekam ich eine Zwei und danach eine Eins.
    »He, Pope!« Es war Meriwether. »Komm schon, Pope, du bist ein Mörder, Pope. Sag uns, wie wütend du werden musstest, um jemanden umzubringen.«
    Jeffers wartete genau wie die anderen Männer im Raum. Das war eine gute Frage, musste er anerkennen, vielleicht nicht unbedingt vom therapeutischen Standpunkt, aber um die Neugier zu befriedigen allemal.
    Pope schnaubte. Er hatte schmale schwarze Augenschlitze und im Vergleich zu seinem übrigen Körperbau zu breite Schultern. Jeffers hielt ihn für überaus kräftig. »Ich hab noch nie jemanden umgebracht, auf

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