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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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keine da. Sie rieb sich die Augen und merkte, wie eine unendliche Erschöpfung die Dämme ihrer Entschlusskraft und Ausdauer einriss und ihr Innerstes überschwemmte. Sie atmete langsam aus, um die Benommenheit und den Rest an Brechreiz abzuschütteln.
    Detective Barren wollte unbedingt ihre Gedanken ordnen, kam jedoch gegen die Emotionen nicht an. Sie hielt sich am Rand des Spülbeckens fest und versuchte, alles aus dem Kopf zu bekommen, um als eine Art unbeschriebenes Blatt noch einmal zu beginnen.
    Sie holte tief Luft und drehte mit übertriebener Konzentration die Wasserhähne auf. Ihr war heiß, und so ließ sie sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen; sie musste daran denken, dass sie diesen Trick von ihrem Mann gelernt hatte –ein alter Trick der Athleten, um schnell einen kühlen Kopf zu bekommen. Dann spritzte sie sich einige Tropfen ins Gesicht und starrte erneut ihr Spiegelbild an.
    Ich bin alt, dachte Detective Barren.
    Ich bin dünn, spröde und unglücklich, und ich habe Falten auf der Stirn und in den Augenwinkeln, die vor gar nicht allzu langer Zeit noch nicht da waren. Sie betrachtete ihre Handrücken und zählte die Adern. Die Hände einer alten Frau.
    Detective Barren drehte sich um und kehrte ins Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung zurück. Sie warf einen Blick auf die Stapel von Meldungen und Berichten, von Fotos, Vernehmungsprotokollen, psychologischen Gutachten und Listen beschlagnahmter Gegenstände – Berge von Papier als Zeugnis polizeilicher Ermittlungsarbeit. Dies alles stapelte sich ungeordnet auf ihrem kleinen Schreibtisch. Sie ging hinüber und fing wahllos an, die Dokumente zu sichten und in der Materialfülle nach einem logischen Ordnungsprinzip zu suchen. Susans Erbe, dachte sie, und wieder musste sie gegen die Tränen ankämpfen.
    Wie lange hatte sie geweint?
    Sie trat ans Fenster und blickte in den blassblauen Morgenhimmel.
    Er war wolkenlos und drückend hell. Die Luft schien von der Widerspiegelung der Sonne über der endlosen Weite des Meeres so dicht an der Stadt zu flirren. Es war ein Tag ohne Schatten, der sich der leisesten Störung widersetzte, und das ärgerte sie.
    Sie legte die Hand an die Scheibe und fühlte die tropische Hitze. Einen Moment lang hätte sie die Finger am liebsten zur Faust geballt und zugeschlagen. Sie wollte das Glas bersten hören. Sie sehnte sich nach physischem Schmerz. Sie kam zu sich, als sie sah, wie sie tatsächlich die Finger zur Faust geschlossenhatte. Sie trat vom Fenster zurück und warf einen Blick auf ihre Wohnung.
    »Also«, sagte sie laut zu sich selbst, »das war’s dann.«
    Sie hatte das Gefühl, dass soeben etwas zu Ende gegangen war und etwas Neues begann, auch wenn sie noch nicht sagen konnte, was. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und holte tief Luft, dann noch einmal. Oben auf dem Bücherregal stand ein Foto von ihrer Nichte in einem schlichten Silberrahmen, und sie ging langsam hinüber. »Also«, wiederholte sie und betrachtete dabei das Bild, »es ist wohl Zeit, noch einmal von vorn anzufangen.« Als sie das Foto herunternahm, flutete ihr wie ein kühler Wind kurz vor einem heftigen Regenschauer eine Woge der Trauer durch den ganzen Körper. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so unendlich leid.« Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, bei wem sie sich entschuldigte.
     
    Die Beamtin, die in der Dienststelle des Bezirkssheriffs hinter dem Wachtisch saß, reagierte schroff:
    »Haben Sie einen Termin?«
    »Nein, und ich glaube nicht, dass ich einen brauche …«, erwiderte Detective Barren.
    »Tut mir leid, aber ich kann Sie nicht ins Morddezernat rauflassen, wenn niemand Sie erwartet. Zu wem wollen Sie?«
    Detective Barren seufzte laut und genervt, während sie ihre Marke aus der Handtasche fischte.
    »Ich möchte zu Detective Perry. Und zwar jetzt. Nehmen Sie Ihr Telefon, Officer, und rufen Sie ihn an. Und zwar jetzt.«
    Die Frau streckte ihr die Hand entgegen, um die Marke in Augenschein zu nehmen. Detective Barren reichte sie ihr, und die Frau notierte sich die Nummer auf einem Formular. Sie gab den Dienstausweis zurück und wählte, ohne ihrem Gegenüber in die Augen zu blicken, die Nummer des Morddezernats.Es dauerte nicht lange, bis sie sagte: »Detective Perry, bitte.«
    Es herrschte einen Moment lang Schweigen.
    »Detective Perry? Hier ist Detective Barren von der Kripo Miami. Sie möchte Sie sprechen.«
    Wieder entstand eine Pause.
    Die Beamtin legte auf.
    »Dritter Stock.«
    »Ich weiß«,

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