Der Fotograf
lachen. »Es war ’ne gute Idee«, meinte er. »Wenigstens hat sich der Mistkerl in der zweiten Viertelzeit das Knie aufgeschlagen und war sein Stipendium los.«
»Was ist denn aus ihm geworden?«, wollte einer der anderen wissen.
Weingarten grinste. »Mann, der war so ein Mistkerl, klar, dass der nur Cop werden konnte.«
Das Grölen der Lost Boys schallte durch den Raum.
Sein Bruder, dachte Jeffers, hätte ein großartiger Sportler werden können. Wenn er spielte, hatte man das Gefühl, als zöge er den Ball magisch an. Er war schnell und konzentriert, und er hatte eine seltsame Art von Stärke, die nicht von der Muskelkraft abhing, aber umso überlegener war. Außerdem besaß Doug diese besondere Fähigkeit, wenn nötig, den ganzen Tag zu rennen. Er verfügte über eine unglaubliche Ausdauer. Sie speiste sich aus der Wut. Je mehr ihre Eltern ihn zum Sport ermunterten, desto weniger wollte Doug damit zu schaffen haben. Das gehörte wiederum zu seinen kleinen Rebellionen. Martin entsann sich, wie er eines Nachts in ihrem Zimmersaß, nachdem sie das Licht gelöscht hatten, und seinem Bruder zuhörte, der über Hass sprach. Es hatte ihn überrascht, wie abgrundtief die Gefühle seines Bruders waren. »Ich werde keinen Finger für sie krumm machen«, hatte er erklärt. »Ich werde rein gar nichts für sie tun, nichts, was ihnen gefallen könnte. Nichts.«
Aus heutiger Sicht würde Jeffers sagen, dass sich in einer solchen Haltung ein tiefsitzender Selbsthass manifestierte. Doch seine Kindheitserinnerung war stärker. Was er immer noch spüren konnte, war die geballte Wucht dessen, was sein Bruder im dunklen Zimmer zu sagen hatte. Er hatte Dougs Gesicht nicht sehen können, stattdessen erinnerte er sich an den nächtlichen Blick aus dem Fenster über den Garten bis zur nächsten Straße, wo das Mondlicht durch die Bäume schien. Es war ein bescheidenes Haus in einem bescheidenen Vorstadtviertel, das die ganze Wut in seinen vier Wänden staute.
»Der einzige Mensch, auf den ich jemals so sauer war, dass ich ihn umbringen wollte, Mann, war meine Alte.« Jeffers blickte auf und sah, dass Steele das Wort ergriffen hatte. »Die hat immer nur gemeckert, Mann, Tag und Nacht. Morgens, mittags und abends. Verflucht, manchmal hab ich gedacht, die meckert auch noch weiter, wenn sie schläft …«
Die anderen lachten. Jeffers sah, dass einige nickten.
»Wisst ihr, der war es völlig egal, wo wir gerade waren und was wir gerade machten. Sie hat immer dafür gesorgt, dass ich mich, äh, klein gefühlt hab. Klein.«
Es herrschte einen Moment Schweigen, bevor Steele fortfuhr. Jeffers war mit der Patientenakte von Steele bestens vertraut. Er hatte sein eigenes Viertel unsicher gemacht, indem er sich in der Mittagspause von seiner Arbeit als Klempner fortstahl und Hausfrauen überfiel.
Wieder trat Stille ein.
»Wahrscheinlich«, sagte Steele nach einer Weile, »säße ich jetzt nicht hier, wenn mir was eingefallen wäre, wie ich mich an ihr hätte rächen können.«
Jeffers machte sich eine Notiz und dachte: Ist dir doch eingefallen.
Er sah auf die Uhr. Die Sitzung war fast um. Er fragte sich einen Moment, wieso sein Bruder sich geweigert hatte, mit ihm zu Abend zu essen, bei ihm zu übernachten oder wenigstens ein bisschen länger zu bleiben.
»Es ist eine ›empfindsame Reise‹ …«
Was hatte er damit gemeint? Martin merkte, wie in ihm Wut hochstieg. Doug konnte in einem Moment gnadenlos direkt sein und dann wieder unergründlich vage. Er hatte plötzlich ein leeres Gefühl im Magen. Wie gut, überlegte er, kenne ich meinen Bruder? Und automatisch kam die Frage hinterher: Wie gut kenne ich mich selbst? Er ging seinen Terminkalender für den Rest des Tages durch: Visite. Mehrere Stunden Einzeltherapie. Essen allein in seiner Wohnung. Ein Ballspiel im Fernsehen, ein Kapitel in einem Buch, ins Bett. Am nächsten Morgen das Ganze wieder von vorne. Routine ist eine Art Schutzschild, dachte er. Er fragte sich, womit sich sein Bruder schützte. Und wovor? Das ist nicht schwer zu beantworten, dachte er. Er sah sich im Zimmer um.
Wir schützen uns immer vor uns selbst.
»Ich bin dem Unheil auf der Spur …« Er schmunzelte. Das war typisch Doug. Ein Hang zur Theatralik. Für einen Augenblick fühlte er einen Anflug von Eifersucht, dann beließ er es dabei. Wir sind, wie wir sind, dachte er und wurde verlegen. Diese Weisheit ist nicht eben neu, sagte er sich, und noch einmal kam ihm die Frage: Wie ähnlich sind wir
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