Der Fotograf
drückte schmerzhaft zu. Sie schnappte nach Luft. »Vergiss nicht, es gibt keine Regeln. Das Spiel nimmt einfach seinen Lauf, Zug um Zug, bis zum Ende.«
Er ließ ihr Bein los. Es brannte weiter. Sie hätte es am liebsten gerieben, um den Schmerz zu lindern, wagte es aber nicht.
»Frag!«, befahl er.
»Fahren wir an einen Ort, an dem Sie mir helfen werden, Sie besser zu verstehen?«
Er lächelte. »Kluger Boswell«, lobte er. »Ausgezeichneter Boswell.«
Jeffers legte eine wirkungsvolle Pause ein, dann fügte er hinzu: »Das sollte eigentlich offensichtlich sein. Darum geht es schließlich bei diesem kleinen Ausflug.« Er lächelte und wandte sich wieder ganz dem Highway zu.
Anne Hampton hing ihren Tagträumen nach, als sie auf der Interstate an einer Tankstelle vorbeirauschten. Es war immer noch früh, und sie dachte daran, wie angenehm es war, im Sommer frühmorgens aufzustehen – ein Gefühl, mit dem Tag im Einklang zu sein. Sie erinnerte sich, wie sie es als Kind genossen hatte, allein im Haus herumzutappen. Es war eine Zeit, die sie mit sich und ihren Sachen zubrachte. Manchmal öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern einen Spaltbreit und betrachtete sie in ihrem Bett. Wenn sie sicher war, dass sie fest schliefen, schlich sie im Flur zum Zimmer ihres Bruders. Er lag dann meist quer über seinem Bettzeug, das er im Schlaf zerwühlt hatte, und bekam nicht das Geringste von seiner Umgebung mit. Ihr Bruder war Langschläfer. Immer, ohne Ausnahme. Man hätte neben seinem Bett eine Bombe hochgehen lassen können, und der Kleine hätte nichts gemerkt. Es war, als hätte der Körper ihres Bruders gewusst, wie wichtig es war, Kraftreserven zu schöpfen, weil sich ihr Bruder Hals über Kopf ins Leben stürzte. Sie musste innerlich schmunzeln. Als Tommy starb, hat sich die Erde wahrscheinlich ein klitzekleines bisschen langsamer gedreht, sounfassbar wenig, dass nur die ältesten, weisesten Wissenschaftler an den größten Universitäten es mit den neuesten, präzisesten Instrumenten messen konnten. Wenn ich sterbe, dachte sie, kann ich froh sein, wenn sich irgendwo auf einem winzigen Teich das Wasser kräuselt oder eine kleine Bö durch die Bäume weht.
Sie kniff ein paarmal die Augen zu, um die Gedanken zu verdrängen. Meine Gedanken drehen sich nur ums Sterben, sagte sie sich. Und wieso auch nicht? Sie blickte vorsichtig zu Jeffers hinüber, der etwas pfiff, das sie nicht erkannte.
»Werden Sie nur über den Tod reden?«, fragte sie.
Er wandte sich kurz zu ihr um, bevor er wieder nach vorne schaute. Er lächelte. »Guter Boswell«, meinte er. »Sei eine Reporterin.« Er schwieg, dann fuhr er fort. »Nein. Ich werde versuchen, auch über andere Dinge zu reden. Da triffst du einen wichtigen Punkt. Das Problem ist nur« – er lachte, bevor er weitersprach – »meine Vorliebe fürs Morbide. Für Fatalismus. Dafür, wie etwas endet, und nicht so sehr, wie es anfängt.«
Wieder schwieg er und überlegte. Anne Hampton schrieb möglichst viel von dem, was er sagte, mit und starrte plötzlich verzweifelt auf ihre Handschrift. Sie war nicht sicher, ob man sie leicht entziffern konnte, und fragte sich in Panik, ob er es überprüfen würde.
Jeffers begann zu grinsen und lachte dann laut.
»Hier hätte ich eine Geschichte für dich. Die beste lebensbejahende Geschichte, die mir auf Anhieb einfällt. Mir fällt sicher ab und zu eine neue ein, aber die hier, also, das war in meiner Zeit bei dieser Zeitung in Dallas, dem
Times-Herald,
Mitte der siebziger Jahre. Die Leute nannten ihn den
Crimes-Herald,
aber das ist eine andere Geschichte …
An jenem Tag hatte ich Tagesbereitschaft, was normalerweisealles bedeutete – von Blumenausstellungen oder Schnappschüssen von irgendwelchen Industriebonzen für den Wirtschaftsteil bis hin zu Unfällen und Polizisten oder sonst was, das sich ergab. Und dann bekamen wir diesen Anruf. Das war einer dieser großartigen Momente bei einer Zeitung, was in dem Augenblick natürlich niemand weiß, aber dennoch. Da meldet sich dieser Kerl am Telefon und sagt, es sei eben was Unglaubliches passiert. Was denn?, fragt der Lokalredakteur, der sich zu Tode langweilt. Na ja, wie’s aussieht, hat sich dieses Ehepaar gestritten, häusliche Streitigkeiten halt. Sie steckten mitten in der Scheidung und bekamen sich wegen des Sorgerechts für das Kind in die Wolle. Sie packen beide das Baby, und der Blödmann versucht, es seiner Alten aus der Hand zu reißen, und hoppla – da saust
Weitere Kostenlose Bücher