Der Fotograf
»Aber du solltest dich trotzdem besser fühlen.«
Sie empfand eine seltsame Wärme. »Das ist schön. Das ist wirklich eine schöne Geschichte.«
»Sieh zu, dass du sie aufschreibst«, sagte er.
Sie kritzelte eilig auf ihrem Block.
»Und das Baby hat überlebt«, schrieb sie.
Für einen Moment starrte sie auf das Wort: überlebt. Einen Augenblick lang wollte sie weinen, doch sie schaffte es, die Tränen zurückzuhalten.
Seit den letzten Stunden, die ihr wie Tage, ja Wochen erschienen, war dies die erste nicht bedrohliche Schweigepause auf ihrer Fahrt.
Als die Vormittagssonne schon hoch am Himmel stand, glitt Gulfport vorbei. Gelegentlich fiel die Straße zum Golf von Mexiko hin ab, und Anne Hampton hielt nach dem strahlenden Blau der Bucht Ausschau. Diese kurzen Ausblicke trösteten sie ebenso wie ein Möwenschwarm, der dicht über den Wellen auf einer Luftströmung schwebte. Sie sahen wie graue und weiße Segelboote aus, wie sie so schwerelos im Einklang mit den Instinkten und den Geboten der Natur dahinglitten.
Irgendwann im Verlauf des Vormittags sagte Jeffers: »Wir müs sen tanken.«
Er verließ auf einer schmalen Abfahrt die Interstate zur erstbesten Tankstelle, die er fand. In Anne Hamptons Augen war sie ziemlich heruntergekommen; das kleine weiße Schindelholzhausdes Tankwarts schien in der Morgenbrise zu schwanken und sich aus Schwäche an den quadratischen Klinkerbau anzulehnen, in dem sich die Pannenwerkstatt befand. Über den Zapfsäulen der altmodischen Sorte – die bei jedem vollen Liter klingelten, statt der moderneren, computergesteuerten, die sie besser kannte – flatterten zwei Reihen roter, blauer, grüner und gelber Banner. Die Tankstelle nannte sich »Ted’s Dixie Gas« und war bis auf drei Autos, die neben der Werkstatt standen, verlassen. Zwei der Fahrzeuge schienen schrottreif, ausgeschlachtet und verrostet, kaum noch als Wagen zu erkennen. Das dritte war ein kirschroter Straßenrenner mit aufgebocktem Heck, extragroßen Reifen und verchromten Rädern. Der Traum eines Mannes, dachte sie, der Traum eines Mannes, der für ein bisschen kleinstädtische Prahlerei viel Zeit, Geld und Mühe einsetzt.
Während Jeffers knirschend zu den Zapfsäulen fuhr, starrte sie auf das Auto und wusste, dass jeden Moment ein Teenager mit zurückgegeltem Haar herauskommen würde, um sie nach ihren Wünschen zu fragen.
»Geh aufs Klo«, befahl Jeffers.
Seine Stimme klang plötzlich grob. Sie zitterte.
»Du kennst die Regeln, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Ich brauche dir nichts zu erklären, oder?«
Sie schüttelte den Kopf.
Sie sah, dass er die kurzläufige Pistole in der Hand hielt und sie sich unter dem Hemd in den Gürtel steckte. Sie starrte darauf und drehte sich schließlich um.
»Gut«, sagte er. »Das erleichtert die Situation. Und jetzt bleib sitzen, bis ich zu dir rumkomme und dir aufmache.«
Sie wartete.
»Beeil dich«, wies er sie an, während er die Tür aufriss. Siehob den Kopf und sah, wie ein schlaksiger Teenager mit glattem dunklem Haar, das ihm unter einer schäbigen, verblichenen Baseballkappe hervorsah, in ihre Richtung kam.
»Volltanken?«, fragte er mit schleppendem Südstaatenakzent. Für die zwei Worte brauchte er etwa so lange, wie für den kurzen Weg zwischen Werkstatt und Zapfsäulen.
»Randvoll«, antwortete Jeffers. »Wo ist die Damentoilette?«
»Brauchen Sie nicht eher die Herrentoilette?«, entgegnete der Junge grinsend. Für einen Moment dachte Anne Hampton, Jeffers würde ihn auf der Stelle erschießen. Doch stattdessen lachte er. Er formte die Finger zu einer Pistole und zielte auf den Teenager. »Peng«, machte er. »Der Punkt geht an Sie. Nein, ich meine, für die Dame hier.«
Der Tankwart schenkte sein breites Grinsen Anne Hampton, die schwach zurücklächelte. Der Junge deutete auf die Seitenfront des Gebäudes. »Der Schlüssel hängt innen an der Tür da. Der alte Mann wird es Ihnen zeigen.« Er winkte Richtung Kasse.
Anne Hampton sah Jeffers an, und er nickte.
Ihr wurde heiß, als sie die sieben Meter hinüberlief. Es war, als hätte sich ganz plötzlich der Wind gelegt, und zwar nur in ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie starrte zu den Bannern hoch, die immer noch über ihr flatterten, und fragte sich, wieso sie die Brise nicht spürte. Ihr wurde schwindelig und flau im Magen. Sie trat aus der Sonne in den Verkaufsraum. Dort saß ein älterer Mann, unrasiert, mit ölverschmiertem Hemd, an der Registrierkasse und trank eine Dose Limonade. Ihr
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