Der Fotograf
das Baby aus dem Fenster im vierten Stock …
Also, der Lokalredakteur wird endlich wach, weil das nun wirklich ’ne tolle Geschichte ist, und er brüllt nach mir und einem Reporter, wir sollten gefälligst den Arsch in Bewegung setzen, weil ein Baby aus dem Fenster geworfen wurde, und plötzlich merkt der Redakteur, dass der Kerl am Telefon versucht, ihn zu unterbrechen. Ja, ja, schon gut, meint der Redakteur, geben Sie mir nur noch die Adresse. Sie verstehen nicht, antwortet der Mann in der Leitung und wird allmählich sauer. Was verstehe ich nicht?, fragt der Redakteur. Der Witz der Geschichte ist ja, dass jemand das Baby aufgefangen hat. Was?!, staunt der Redakteur. Ja, erklärt der Mann, da läuft genau in dem Moment ein Kerl vorbei, sieht, wie das Baby aus dem Fenster fällt … und fängt es doch wahrhaftig mitten im Sturzflug auf.«
Jeffers sah Anne Hampton an. Sie lächelte.
»Tatsächlich? Ich meine, er hat wirklich das Baby aufgefangen? Ich kann mir nicht vorstellen …«
»Nein, nein, das stimmt. Ich schwör’s …« Jeffers lachte. »Die vierte Geschichte. Genau wie ein Fair Catch beim Football.«
»Was ist ein Fair Catch?«
»Das ist, wenn der Kerl, der den Ball auffängt, die Hand hebt und der anderen Mannschaft ein Zeichen gibt, dass er den Ball schnappt, ohne dass er damit nach vorne will. Dann dürfen sie ihn nicht angreifen. Ein reiner Akt der Selbsterhaltung.«
»Aber wie …«
»Wüsste ich auch gerne.« Jeffers lachte wieder. »Ich meine, der Mann muss eine unglaubliche Geistesgegenwart besessen haben … ich glaube, die meisten von uns würden nach oben schauen, und wenn sie sehen, dass da was aus dem Fenster fliegt, so schnell wie möglich aus dem Weg springen. Der Mann nicht.«
»Haben Sie mit ihm geredet? Ich meine, was hat er dazu gesagt?«
»Er sagte, er hat nach oben geschaut und in einem Bruchteil von Sekunden begriffen, dass es ein Baby ist, und er hat sich direkt unter das Kind gestellt. In seinem Baseball-Team an der Highschool war er Centerfielder gewesen, was witzig war, denn als er das sagte, haben die Leute genickt, als ob das alles erklärte, obwohl es natürlich gar nichts erklärte, weil Baseballspieler normalerweise nicht allzu geübt darin sind, Babys aufzufangen.«
»Aber vielleicht hat er da zumindest gelernt, richtig zu fangen?«
»Vermutlich. Football, Baseball. Das war eine Geschichte, die nach Sportmetaphern schrie.«
Jeffers sah Anne Hampton von der Seite an. Sie erwiderte seinen Blick und schüttelte den Kopf. Dann lächelte sie, und ihr Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. Beide mussten sie laut lachen.
»Das ist unglaublich. Und irgendwie wundersam …«
»Im Grunde beschreibt es das, was Fotografen tun. Sie wandern mit schöner Regelmäßigkeit von einem wundersamen Vorfall zum nächsten …« Jeffers zögerte. »Schreib das lieber auf«, sagte er, und Anne Hampton machte sich weitere Notizen.
Als sie wieder aufsah, fuhr Jeffers fort. »Jedenfalls kann ich dir sagen, dass dieser Auftrag was ganz Besonderes für mich war, was sag ich, für uns alle, nicht nur an dem Tag, sondern für den ganzen Monat. Ich hab den Kerl abgelichtet, er hatte, weiß auch nicht, das entzückteste verlegene Grinsen. Wir lachten alle und kicherten – die Reporter, die Fotografen, Fernsehcrews, Passanten, Nachbarn, der Streifenpolizist, alle. Selbst der Vater des Kindes, dem sie Handschellen angelegt hatten, weil sie wohl dachten, irgendeiner müsste ja wohl verhaftet werden, wenn ein Baby aus dem Fenster geworfen wird. Das Komische war bloß, dass es ihm nichts auszumachen schien. Dann hab ich ein Foto von der Mutter gemacht. Hast du schon mal einen Menschen gesehen, dessen Leben sich in kurzer Zeit mehrmals hintereinander so drastisch verändert? Von Angst über Verzweiflung, Qual, Hoffnung zu unglaublichem Glück, und das alles binnen Sekunden? Das alles stand ihr in den Augen. Das war nicht schwer zu fotografieren. Leg ihr einfach das Baby in den Arm, setz sie neben den Kerl, der es aufgefangen hat, und drück auf den Auslöser. Bingo. Pathos und Freude in einem.«
»Unglaublich«, sagte sie.
»Ja, unglaublich.«
»Sie binden mir auch keinen Bären auf, nur damit ich mich besser fühle?«
»Nein, auf keinen Fall. Das ist nicht meine Art.«
»Was?«
»Etwas machen, nur damit sich jemand besser fühlt. Das gehört absolut nicht zur Jobbeschreibung.«
»Ich meinte nicht …«
Er unterbrach sie. »Ich weiß, was du meinst.«
Er sah sie an und lächelte.
Weitere Kostenlose Bücher