Der Frauenheld
nach Hause gingen. Es war wahrscheinlich Teil der Konzeption des Parks, dachte er, daß neue Teile immer vertraut wirkten, und umgekehrt.
Austin schlenderte zum Betonrand des Teiches hinüber und setzte sich auf eine Bank ein paar Meter entfernt von Leo, der beinahe verzückt zusah, wie die älteren Jungen ihre Boote mit langen dünnen Stöcken steuerten. Es gab keinen Wind, und nur die leisen eifrigen Stimmen der Jungen waren in der Luft zu hören, durch die immer noch Schwalben umherschossen. Die kleinen Boote schwammen lautlos in dem seichten Wasser neben Erdnußschalen und Popcornstückchen, und ein paar Enten und Schwäne glitten gerade außer Reichweite vorüber, beäugten die Boote und warteten darauf, daß die Jungen gingen.
Austin konnte hören, wie in der Nähe Tennisbälle hin- und hergeschlagen wurden, konnte aber nicht sehen, wo. Ein Sandplatz, da war er sich sicher. Er wünschte, er könnte sich hinsetzen und Leuten zusehen, die Tennis spielten, statt Jungen zu beobachten, die sich mit Booten beschäftigten. Frauenstimmen lachten und sprachen auf französisch und lachten wieder, dann wurde wieder ein Tennisball geschlagen. Eine dichte Wand von etwas, was wie Rhododendron aussah, erhob sich hinter einem Rasen, und dahinter, nahm er an, mußten die Plätze sein.
Auf der anderen Seite des Teiches saß ein Mann mit hellbraunem Anzug auf der Betonmauer und wurde von einem anderen Mann fotografiert. Eine teure Kamera war im Einsatz, und der zweite Mann lief ständig hin und her und fand neue Positionen, aus denen er durch den Sucher blicken konnte. » Su-perb «, hörte Austin den Fotografen sagen. » Très, très, très bon. Bewegen Sie sich jetzt nicht. Nicht bewegen.« Irgendeine berühmte Persönlichkeit, dachte Austin, ein Schauspieler oder ein bekannter Schriftsteller – jemand, der obenauf war. Der Mann wirkte ungekünstelt, schien nicht einmal zu bemerken, daß er fotografiert wurde. Unerwartet drehte sich Leo um und sah Austin an, als ob er – Leo – etwas sagen wollte, etwas äußerst Bedeutsames und Aufregendes über die kleinen Boote. Sein Gesicht war ganz lebendig vor lauter Wichtigkeit. Aber als er Austin sah, der mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Bank saß, verfinsterte die Überlegung, wer Austin war, seine blassen kleinen Züge, und er sah plötzlich geplagt aus und ernüchtert und verschlossen, und er drehte sich schnell wieder um, wobei er noch näher ans Wasser heranging, als hätte er vor, hineinzuwaten.
Er war bloß ein Kind, dachte Austin gelassen, ein Kind mit geschiedenen Eltern; kein kleiner Unmensch oder Tyrann. Man konnte ihn, wenn man geduldig blieb, mit der Zeit für sich einnehmen. Er dachte an seinen eigenen Vater, einen großen, geduldigen, gutherzigen Mann, der in einem Sportfachgeschäft in Peoria gearbeitet hatte. Vor zwei Jahren hatten Austins Mutter und er ihren fünfzigsten Hochzeitstag gefeiert, ein großes Spektakel in einem Zelt im Stadtpark, mit Austins Bruder Ted, der aus Phoenix gekommen war, und all den älteren Cousins und Freunden aus weit entfernten Bundesstaaten und lang vergangenen Jahrzehnten. Eine Woche später hatte sein Vater, während er im Fernsehen die Nachrichten sah, einen Schlaganfall erlitten und war in seinem Sessel gestorben.
Er hatte immer Geduld mit seinen Söhnen gehabt, stellte Austin nüchtern fest. Es hatte in seinem Leben keine Scheidungen gegeben oder plötzliche mitternächtliche Aufbrüche; aber sein Vater hatte immer versucht, die Probleme der jüngeren Generation zu verstehen. Was hätte er also von alldem gehalten, fragte sich Austin? Frankreich. Eine fremde Frau mit einem Sohn. Ein leeres Haus jenseits des Ozeans. Flucht. Lügen. Chaos. Er hätte einen Versuch gemacht, alles zu verstehen, versucht, das Gute darin zu sehen. Aber letztlich wäre sein Urteil hart ausgefallen, und er hätte Barbaras Partei ergriffen, deren Erfolg im Immobilienhandel er bewundert hatte. Er versuchte, sich die genauen Worte seines Vaters vorzustellen, sein Urteil, das er von seinem großen Sessel vorm Fernseher aus gefällt hatte – von genau dem Ort, wo er seine letzten, verzweifelten Atemzüge getan hatte. Aber er konnte es nicht. Er konnte aus irgendeinem Grund die Stimme seines Vaters nicht wiedererschaffen, ihre Kadenzen, ihren genauen Tonfall. Es war seltsam, daß er sich nicht an die Stimme seines Vaters erinnern konnte, eine Stimme, die er sein ganzes Leben lang gehört hatte. Möglicherweise hatte sie nicht soviel Wirkung auf
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