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Der Frauenheld

Der Frauenheld

Titel: Der Frauenheld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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klitzekleine Gewißheit stieg in ihm auf, die ihm sagte – Leo, wo immer er war, war wohlauf. Man würde ihn finden, und er wäre wohlauf und glücklich. Er würde seine Mutter sehen und Martin Austin sofort vergessen. Ihm würde nichts Schlimmes zustoßen. Aber er, Martin Austin, war allein. Er konnte das Kind nicht finden, und für ihn würde alles nur ein schlimmes Ende nehmen.
    Jenseits einer Rasenfläche sah er einen Parkwächter in einer dunkelblauen Uniform zwischen Bäumen hervortreten, hinter denen die Tennisplätze lagen, und Austin begann, auf ihn zuzurennen. Es überraschte ihn, daß er rannte, und auf halber Strecke wurde er langsamer und ging mit schnellen Schritten auf den Mann zu, der stehengeblieben war, damit er sich ihm nähern konnte.
    »Sprechen Sie Englisch?« sagte Austin, bevor er ihn erreicht hatte. Er wußte, daß sein Gesicht einen irgendwie übertriebenen Ausdruck angenommen hatte, weil der Wächter ihn seltsam ansah, den Kopf leicht neigte, als zöge er es vor, ihn aus einem anderen Winkel zu betrachten, oder als hörte er eine merkwürdige Melodie und versuchte, sie besser zu verstehen. In seinen Mundwinkeln schien ein Lächeln zu liegen.
    »Entschuldigen Sie«, sagte Austin und holte Luft. »Sie sprechen Englisch, nicht wahr?«
    »Ein bißchen, warum nicht«, sagte der Wächter, und dann lächelte er wirklich. Er war mittleren Alters und sah nett aus mit seinem weichen gebräunten Gesicht und dem schmalen Hitler-Bärtchen. Er trug die Uniform eines französischen Gendarmen mit Schultergurt und weißer Kordel, die mit der Pistole verbunden war, und einem blau-goldenen Käppi. Er war ein Mann, der Parks mochte.
    »Ich habe hier irgendwo einen kleinen Jungen verloren«, sagte Austin sehr ruhig, obwohl er immer noch keine Luft bekam. Er hielt die rechte Hand an seine Wange, als wäre sie naß, und spürte, daß seine Haut kalt war. Er drehte sich plötzlich um und sah noch einmal auf den Betonrand des Teiches, auf den Rasen, der von Kieswegen durchzogen war, und dann auf einen dichten Wall von Taxushecken dahinter. Er rechnete damit, Leo genau in der Mitte dieser Miniaturlandschaft zu entdecken. Jetzt, da er Angst bekommen hatte und Zeit vergangen war und er um Hilfe ersuchte und Fremde ihn mißtrauisch und verwundert beäugten – jetzt, da all dies geschehen war, würde Leo erscheinen, und alles würde sich wieder beruhigen.
    Aber es war niemand zu sehen. Die Rasenfläche war leer, und es war schon dunkel. Er konnte die schwache Innenbeleuchtung in den Wohnhäusern jenseits des hohen Parkzauns sehen, auch die gelben Autoscheinwerfer auf der rue Vaugirard. Er dachte daran, wie er einmal in Illinois mit seinem Vater auf die Jagd gegangen war. Er war noch ein Junge, und ihr Hund war weggelaufen. Und sie wußten, daß der Einbruch der Dämmerung bedeutete, daß sie den Hund nie wiedersehen würden. Sie waren weit weg von zu Hause. Der Hund würde den Weg zurück nicht finden. Und genau so war es auch gekommen.
    Der Parkwächter stand vor Austin, lächelte, starrte sehr merkwürdig in sein Gesicht, suchend, als ob er für irgend etwas den Beweis erbringen wollte – daß Austin verrückt war oder auf Drogen oder möglicherweise nur einen Scherz trieb. Der Mann, das wurde Austin klar, hatte nichts verstanden und wartete bloß darauf, daß etwas geschah, was er verstehen würde.
    Aber er hatte jetzt alles zerstört. Leo war weg. Entführt. Mißbraucht. Einfach verloren in einer hoffnungslos riesigen Stadt, und seine ganze neugewonnene Freiheit, seine reine Weste waren in einem einzigen Augenblick vertan. Er würde ins Gefängnis kommen, und er sollte ins Gefängnis kommen. Er war ein schrecklicher Mensch. Ein nachlässiger Mensch. Er brachte Chaos und Unglück in das Leben unschuldiger, argloser Menschen, die ihm vertrauten. Keine Strafe konnte hart genug für ihn sein.
    Austin sah wieder auf die Taxushecke, ein langes grünes Gebüsch, mehrere Meter dick, dessen Inneres sich in verschlungenen Schatten verlor. Dort war Leo, dachte er mit absoluter Gewißheit. Und er fühlte Erleichterung, eine kaum zu bändigende Erleichterung.
    »Es tut mir leid, Sie belästigt zu haben«, sagte er zu dem Wächter. » Je regrette. Ich habe einen Fehler gemacht.« Und er drehte sich um und rannte auf die Taxushecke zu, über die Rasenfläche, die Kieswege und sorgfältig angelegten Beete, die hellgelb in Blüte standen, durch den prächtigen Park. Er tauchte unter zwischen den tiefhängenden verkümmerten

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