Der Frauenjäger
Donnerstag zum Monster erklärt hatte. Wann immer die Kinder nicht in Hörweite waren, kam er auf Andreas zu sprechen, den er doch etliche Jahre länger kannte als Marlene. Und ihm war an Andreas niemals eine bedrohliche Seite oder ein düsterer Wesenszug aufgefallen. Besonders regte ihn der hellblaue Büstenhalter mit den aufgestickten Röschen und dem Blutfleck auf. Wie konnte Karola sich so etwas ausdenken und als blanke Tatsache ausgeben?
Natürlich war Andreas kein Kind von Traurigkeit gewesen. Er hatte mitgenommen, was am Straßenrand, an Bushaltestellen oder sonst wo stand. «Taxi gefällig?», war sein Standardspruch gewesen. Und wenn ihn eine ranließ, hatte er seinen Spaß mit ihr gehabt. Aber es waren bei weitem nicht so viele eingestiegen, wie er Karola weisgemacht hatte. Und von denen, die er ein Stück weit mitgenommen hatte, hatte Andreas längst nicht jede vernascht.
Gewalt hätte er niemals angewendet, davon war Werner fest überzeugt. Mit ihm hatte Andreas oft über seine nächtlichen Touren gesprochen. Und nicht nur darüber. Werner wusste auch, warum der Abenteurer ein Faible für Liebe in freier Natur hatte. Das zumindest hatte Karola nicht erfunden, sie hatte nur den Grund verfälscht wiedergegeben: Weil das Schlafzimmerseiner bescheuerten Mutter unmittelbar neben dem Zimmer lag, das er für Karola und sich hergerichtet hatte.
«Jedes Mal klopfte seine Mutter an die Wand und zeterte, sie könne nicht schlafen, wenn er und Karola im Bett zur Sache kamen», erzählte Werner. «Ihn hat das völlig aus dem Konzept gebracht. Karola machte es anscheinend nicht viel aus. Er meinte schon vor Jahren, sie brauche Publikum, hätte das Klopfen und Schimpfen regelrecht genossen, nur noch lauter gestöhnt.»
Bei ihrer gemeinsamen Einkaufstour schlug Werner vor, nachmittags einen Spaziergang durchs Gewerbegebiet zu machen. Nur mal sehen, ob es auf dem Scheidweber-Gelände Hinweise gab, die zu einer
zufälligen
Entdeckung führen könnten. Er hätte Andreas gerne wiedergesehen und erfahren, wie es ihm in den dreieinhalb Jahren ergangen war.
Dass Ulla gesagt hatte, er sähe nicht aus, als hätte er eine traumhafte Zeit hinter sich, gab Anlass zu allerlei Befürchtungen. Irgendetwas, meinte Werner, müsse Andreas ja auch veranlasst haben, heimatliche Gefilde aufzusuchen. Vielleicht war er krank, brauchte ärztliche Hilfe. Vielleicht war er pleite und brauchte Geld.
Dreieinhalb Jahre waren eine lange Zeit, auch wenn ein Mann auf Wanderschaft weniger brauchte als ein Familienvater. So hoch war die Summe nicht gewesen, die Andreas vom Sparbuch mit auf Reisen genommen hatte. Was Marlene für Ulla tun wollte, hätte Werner gerne für seinen Freund getan.
Das Wetter war einigermaßen, frostig und windig, aber sonnig und trocken. Marlene gab sich trotzdem die größte Mühe, ihm den Spaziergang auszureden. «Wenn er noch dort ist und wir auftauchen, weiß er, dass ich geredet habe. Das wäre mir sehr unangenehm.»
«Wieso das denn?», wunderte Werner sich.
«Ich will nicht, dass er denkt, ich könnte nichts für mich behalten. Mir reicht, was die anderen von mir denken.»
«Was denn?», fragte Werner.
«Dass ich Verzweiflung und Trostlosigkeit nicht buchstabieren kann und drei Chinesen brauche, weil ich allein nichts auf die Reihe bringe.»
Das war nicht ganz korrekt wiedergegeben, aber was spielte das für eine Rolle? Werner wollte nicht einmal wissen, wer so von ihr dachte. Er schüttelte nur verständnislos den Kopf. Abstand von seinem Vorhaben nahm er erst, als sie ihm versprach, sich am Abend bei Ulla zu erkundigen, ob Andreas Geld brauche oder einen Arzt oder beides und wie man ihm etwas zukommen lassen könnte.
Unter diesen Voraussetzungen befürchtete sie, dass Werner Karola abends vor versammelter Mannschaft zur Rede stellte und sich anschließend mit Ulla in einen stillen Winkel verzog, um Einzelheiten zu erfahren. Aber er tat weder das eine noch das andere. Karola lobte er für ihr Chili, es war wie immer höllisch scharf, aber wirklich sehr lecker. Ulla nahm er zwar zur Seite, sagte jedoch nur: «Wenn ihr Hilfe braucht, weißt du hoffentlich, an wen du dich wenden kannst.»
Marlene wunderte sich, dass Ulla und Matthias überhaupt gekommen waren. Natürlich waren die monatlichen Treffen im Freundeskreis eine feste Einrichtung, an der noch nie jemand gerüttelt hatte, nicht mal, nachdem Andreas verschwunden war. Aber der verheerende Unfall eines Siebzehnjährigen war doch etwas anderes als das
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