Der Fremde aus dem Meer
ihrem Spiel abbringen. Du kennst ja diese Leute, die alles genau nachbilden und nachspielen, wie es einmal war, bis in die kleinsten Kleinigkeiten. Tja, dieses Schiff war wirklich unglaublich. Durch und durch echt, bis zum letzten Hosenknopf des letzten Mannschaftsmitglieds. Habe ich schon erwähnt, dass diese Kerle es keineswegs freundlich aufnahmen, dass ihr Kapitän eine Frau an Bord genommen hatte? Aber ich glaube, ich greife im Augenblick mir selbst vor. Erst als sie sich auf eine Schlacht vorbereiteten, bekam ich das Gefühl, dass hinter den handgenähten Kleidern und ihrer seltsamen Sprache mehr steckte als bloß ein Spiel.
Denn als die Schlacht losging, war es ein wirklicher Krieg. Mein Gott, Penn, ein Mann schlug einem anderen unmittelbar vor mir die Hand ab und stieß dann die Klinge seines Schwertes durch dessen Brustkorb hindurch! Ich kotzte wie ein Reiher. (Ich gebe das nur dir gegenüber zu, Kumpel.) Aber das Feuer, die Schreie, der Tod, alles war auf schreckliche Weise wirklich.
Ich drängte das alles aus meinen Gedanken, bis die Schlacht vorüber war. (Überleben war mein Hauptziel.). Und während ich half, die Verwundeten zu versorgen, hörte ich die Mannschaft von einer schwarzen Nebelwand erzählen. Ihre Beschreibung entsprach genau dem, was ich gesehen hatte, außer, dass sie jenseits des Nebels ein weißes Geisterschiff entdeckt hatten, das zuerst in die eine und kurz darauf in die andere Richtung fuhr.
Das weiße Schiff war die Nassau Queen. Und die schwarze Wand war ein Riss im Gewebe der Zeit.
Penny blinzelte und las die Zeilen immer wieder. Dann sah sie auf und starrte ins Leere. Das konnte nicht wahr sein! Ein Loch im Bau des Universums, das einen körperlich in eine andere Dimension, ein anderes Jahrhundert brachte? Das war nichts als Theorie, nichts Greifbares oder Bewiesenes. Es verschlug ihr so stark den Atem, dass ihr ein nervöses Lachen in der Kehle stecken blieb.
Aber es war Tess’ Handschrift, es waren Tess’ Worte. Und ihr liebevolles »Kumpel«.
Ich weiß, was du jetzt denkst. Die gute alte Tess hat Wasser im Gehirn oder etwas Ähnliches. Ich bin kein Raketenwissenschaftler, aber ich glaube, dass ich genau in diesem Augenblick in diesem Ozean war, weil ich in Rothmeres Büro zögerte und entwischt wurde. Wenn ich unbehelligt hätte verschwinden können, wäre ich nicht geflohen und schließlich überhaupt nicht ins Wasser gesprungen. Zum Kuckuck, ich kann nicht das Unerklärliche erklären. Aber glaub mir, Penn, es ist geschehen. Ich lebe im Jahr 1789. Und es gefällt mir.
Penny lehnte sich an die Seemannskiste und las schnell weiter. Während sie Seite für Seite umblätterte, erfuhr sie von den Geschehnissen, die sich ereigneten, nachdem Tess ihre Entdeckung gemacht hatte. Sie erfuhr von Tess’ Entschlossenheit, dem Kapitän zu beweisen, dass sie durch die Zeit gereist war, ohne den Inhalt ihres Segeltuchsackes zu benutzen, der es ihr bedeutend leichter gemacht hätte. Tess wollte, dass er an sie glaubte, bevor er ihre Geschichte glaubte. Es passt zu Tess, dass sie den schwierigeren Weg gewählt hat, dachte Penny. Dann las sie, dass Tess sich verliebt hatte. Und dass sie heiratete!
Penny setzte sich auf.
Dass sie Captain Dane Alexander Blackwell heiratete! Tess Renfrew Blackwell! Fieberhaft ging Penny die anderen Bücher durch und überflog die Seiten. Tagebücher aus Tess’ Leben. Von all den Gedanken und Bildern, die Tess ihr darbot, wurde ihr ganz schwindlig. Die Schriften überspannten einen Zeitraum von nahezu fünfzig Jahren, und sie brachte es nicht über sich, die letzten Eintragungen zu lesen. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. Heftig rang sie nach Luft. Das ist nicht möglich, schrie die Stimme der Logik in ihr. Das ist nicht Wirklichkeit! Doch als ihr Blick über das ganze Durcheinander glitt, sah sie eine Fotografie. Vorsichtig zog sie das Bild hervor, und ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Der Hauptfeldwebel und Lil. Tess’ Adoptiveltern. Das war dasselbe Foto, das Tess gemacht hatte, kurz bevor sie gegangen war. Penny erinnerte sich daran, dass Rothmeres Männer gerade vor ihrer Wohnung gewesen waren.
Mit zittrigen Fingern rieb sie sich über die Schläfen.
Tess hat das für mich getan, damit ich mir nicht weiter Gedanken mache, mich gräme ... oder hoffe.
Und es bedeutete, dass sie nie wieder zurückkehren würde.
Ein krampfartiger Schrei kündigte sich in der Tiefe ihrer Kehle an, den sie sofort hinunterschluckte. Mein Gott, dachte
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