Der Fremde aus dem Meer
sie, wie viel Glück sie gehabt hatte, dass sie nicht gestorben und unter dem Druck zusammengebrochen war oder als Pennerin, Hure oder Drogendealerin geendet hatte? Ihre unerschütterliche Stärke und genügend Einsicht hatten sie davor bewahrt, als sie so weit heruntergekommen war. Justin bewunderte ihren Mut, sich den kritischen Blicken der ganzen Welt zu stellen.
»Ich denke, das reicht«, sagte er leise. »Ganz inoffiziell...« Sie hob eine Augenbraue, wieder ganz die strenge Dame, die er beim letzten Mal interviewt hatte. »Wissen Sie, wer dahinter steckt?«
Ihr Blick wanderte zu O’Keefe. »Diese Frage würde ich lieber nicht beantworten.«
Aber er hatte schon eine Ahnung. Die Polizeiberichte waren öffentlich zugänglich. Es gab das Urteil eines Richters darüber, dass Tess Renfrews Verschwinden als Tod durch Ertrinken zu gelten hatte, weil es Zeugen dafür gab: einen Fähnrich zur See und einen Muskelmann, der für Rothmere arbeitete. Dieser Muskelmann war die Verbindung. Rothmere war nicht dumm, aber wenn man Sloane und deren Rivalität mit ihr aus der Zeit der Studentinnenvereinigung einbezog, dann war das schon ein verdammt gutes Verbindungsstück: Die Beziehung zwischen Sloane Rothmere und Tess Renfrew. Dass Hamilton ihren Anteil an den Ursachen, die zu Renfrews Verschwinden beigetragen hatten, eingestanden hatte, würde sie entlasten. Zumindest in den Augen der Zuschauer. Aber mit Sloane Rothmere war es anders. Ihr Leben war voll mit kostspieligem Unsinn und beinah kriminellen Aktivitäten. Dies würde das Ansehen ihrer Familie in den Schmutz ziehen. Und Justin würde ein paar Nachforschungen anstellen.
»Könnten wir vielleicht ein Interview mit Mister O’Keefe machen?«
Sie blickte zu Ramsey hinüber und lachte in sich hinein. »Es gibt da einige Dinge, die ich nach wie vor nicht öffentlich machen möchte, Justin«, sagte sie, bevor ihr Blick zu ihm zurückkehrte.
Justins Lächeln war echt. Er hatte diese Antwort erwartet. »Dann bis morgen Abend.«
»Gut. Ich möchte Ihnen meinen Vater vorstellen.«
Verblüfft blinzelte Justin. Und Penny neigte ihren Kopf zu dem
Mann, der etwas abseits von Ramsey stand. Um besser sehen zu können, drehte sich Justin um die Kamera herum, und seine Gesichtszüge spannten sich an. Er warf einen Blick auf sie. »Er sieht Ihnen tatsächlich ähnlich.«
Penny blieb stehen und winkte Justin zu. »Ich gebe Ihnen Gelegenheit, einige Nachforschungen anzustellen«, sagte sie. Dann schritt sie schnell über Kabel und andere Ausrüstung in die Arme Ramseys.
Alexander legte die abgeschabte Juwelenschatulle in ihre Hände. »Mach damit, was immer du für richtig hältst. Sie enthält überwiegend Bilder und Briefe. Wir haben alle Juwelen verkauft.« Traurigkeit lag auf seinen Zügen.
Sanft strich Penny mit den Fingern über den Deckel, während sie erst Ramsey ansah und dann Alexander.
»Vielen Dank.« Sie beugte sich vor, legte den Arm um seinen Hals und drückte sich kurz an ihn. Doch als sie zurücktrat, hatte sich ihre Medaillonkette an der Schatulle verhakt. Sofort befreite Alexander das Medaillon, und sein Blick ging zwischen ihr und dem verbeulten Oval hin und her.
»Annora hat dir das umgelegt, ein paar Wochen bevor du entführt wurdest.« Er glitt mit dem Daumen über das Gold. »Ich wollte nicht, dass du es trägst, weil ich glaubte, du seist noch zu klein und würdest es in den Mund stecken. Ich hatte Angst, du würdest daran ersticken.«
»Sie steckt es noch immer in den Mund«, sagte Ramsey und legte einen Arm um ihre Schulter. Alexander lächelte.
Penny küsste ihn noch einmal, hielt das Medaillon fest und stützte sich gegen Ramsey, als sie sich umdrehte und die Treppe hinunterschritt. Sie konnte ihn nicht überzeugen, über Nacht zu bleiben, und sie wollte auch nicht darauf drängen. Ein solcher Tag gab einem eine Menge zu verarbeiten.
Ramsey schloss die Tür und bat sie, schnell die Treppe hinaufzukommen.
»Darf ich dich darum bitten, das bis morgen ruhen zu lassen?« Er deutete mit dem Kopf auf die Schatulle.
»Ich kann es nicht.« Ihre Augen baten ihn um Nachsicht und Geduld, und sie seufzte. Seine Lippen verzogen sich leicht, als er sie schnell in sein Zimmer schob.
»Du hast mich verhext, weißt du das?« Er nahm die Schatulle und stellte sie auf die Kommode, ehe er sie in seine Arme zog. Sein Blick glitt über ihr emporgerichtetes Gesicht. »Gott im Himmel, wie ist es möglich, dass ich dich sehe und trotzdem vermisse?«
Ihre Hände
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