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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Ich hatte nicht den Wunsch, sie zu berühren. Ich wollte es nicht, das war alles.Wozu Erklärungen, wozu das Vokabular der Psychiatrie bemühen. Ein Resultat des wissenschaftlichen Zeitalters: Leben als klinischer Befund, Äußerungen, Bewegungen, Gefühle lediglich ein Fehlverhalten vor den alles erfassenden Termini einer abstrakten Norm.
    Ich startete den Motor. Als ich den Wagen wendete, sah ich im Spiegel Karlas Rücken. Sie ging mit leichten, schwingenden Bewegungen, ihr Hintern schaukelte heftig. Sie tat mir leid.
    Henry sah ich die ganze Woche nicht. In seinem Postkasten lagen unberührt Briefe. Ich sah sie jeden Tag, wenn ich meinen Postkasten aufschloß. Dennoch klingelte ich an seiner Wohnungstür und war enttäuscht, ihn nicht anzutreffen. Nur die Tür seiner Nachbarin ging einen Spalt auf und wurde, sobald ich mich umdrehte, energisch geschlossen. Ich wußte nicht, wo Henry war, warum er mir nicht gesagt hatte, daß er verreist. Und ich wunderte mich über mich selbst, darüber, daß ich von Henry erwartete, sich abzumelden. Wir waren nicht füreinander verantwortlich. Keiner schuldete dem anderen etwas.
    Ich versuchte, nicht mehr an ihn zu denken. Ich ärgerte mich, daß ich so schnell bereit war, mich aufzugeben. Wieso sollte er sich bei mir abmelden. War ich schon wieder dabei, mich in eine der üblichen Verbindungen zu stürzen? Eine Art Ehe mit all ihren tausend Verpflichtungen und kleinlichen Abhängigkeiten. Eine Erfahrung sollte ausreichen.
    Am Donnerstag brachte ich nach der Arbeit den Pelz zur Reinigung. Die Frau an der Annahme fragte, ob ich den Mantel auch zur Aufbewahrung dalassen wollte. Es würde dem Pelz besser bekommen, er würde fachgerecht aufbewahrt werden. Ich fragte sie, was das bedeutet, aber sie konnte es mir nicht sagen. Statt dessen entgegnete sie, viele Kunden würden ihre Pelze den Sommer über hier aufbewahren lassen. Ich wollte wissen, ob auch kleine Reparaturenausgeführt werden. Eine Schnalle vom Mantel war abgerissen. Sie konnte mir auch das nicht sagen. Sie erzählte mir, daß sie seit einem Jahr geschieden sei und eine gute Arbeit suche. Sie habe zwei Jahre studiert, aber das Studium ihres Mannes und der Kinder wegen abgebrochen. Dadurch sei es für sie jetzt schwer, eine interessante Arbeit zu finden.
    Da sehen Sie, was man davon hat, sagte sie, von der Liebe.
    Sie hoffe, als Töpferin arbeiten zu können. Sie sei immer ein kreativer Mensch gewesen, sie habe auch schon am Webstuhl gearbeitet. Wenn sie Geld hätte, würde sie ein kleines Geschäft aufmachen oder eine Werkstatt für Accessoires aus Stoff und Leder.
    Sie hatte Vertrauen zu mir gefaßt. Sie brauchte einen Menschen, dem sie erzählen konnte. Ihr Mann war wieder verheiratet. Sie lebte allein mit ihrem großen Sohn und zwei Töchtern. Der Sohn war fünfzehn Jahre alt. Er bestahl sie, kam nachts nicht nach Hause, betrank sich und schwänzte die Schule. Sie fragte dann, was ich beruflich mache, und ich sagte, daß ich Ärztin sei.
    Fast erschrocken sagte sie: Ach, entschuldigen Sie, Frau Doktor, was ich so daherrede.
    Das Vertrauen war weg. Sie sprach nur noch über meinen Pelz. Es schien ihr unangenehm zu sein, mit einer Frau Doktor über ihre privaten Probleme gesprochen zu haben. Mir war es recht, helfen konnte ich ihr ohnehin nicht. Ich verabschiedete mich freundlich. Den Pelz ließ ich da.
    Dann kaufte ich ein paar Lebensmittel in der Kaufhalle und in einer Boutique eine kragenlose, weiße Bluse. Da die kleine Boutique keinen Raum hatte, in dem ich die Bluse anprobieren konnte, war ich zuerst unschlüssig. Die Verkäuferin redete auf mich ein. Sie müsse mir passen, sagte sie. Dann sprach sie über meine Figur und daß ich fabelhaft schlank sei. Die Bluse würde nur knabenhaften Frauen stehenwie mir. Ich bezahlte, was sie verlangte, obgleich es mir zu teuer vorkam. Ich wollte den Laden schnell verlassen. Es war mir unangenehm, daß und wie sie von meiner Figur sprach. Sie erschien mir zudringlich, als sie um mich herumging, mich betrachtete und sich über meine »Büste« äußerte.
    Als ich bezahlte, hörte sie nicht auf zu reden. Sie war größer als ich, und ich sah ihren Mund vor meinen Augen, die ständig bewegten Lippen servil zugespitzt, die Hände, die sich vor ihrer Brust flatternd bewegten, den mageren, mit vielen Ketten geschmückten Hals. Als sie mir das Wechselgeld hinlegte, betrachtete ich den winzigen Raum und fragte sie, wo die Toilette sei. Sie schüttelte verständnislos den Kopf, und als

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