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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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ich sie ansah. Er ging zu ihr, drückte einen Finger auf ihr rechtes Wangenbein und zog das Augenlid nach unten. Er lächelte mich an: Schau, eine gut ausgebildete narzißtische Hypochondrie. Ich möchte sie klassisch nennen.
    Schwein, sagte Maria ruhig. Sie blieb unbewegt sitzen und wehrte ihn nicht ab.
    Fred ließ sich nicht unterbrechen: Dazu eine Anlage zur Hysterie, als Ergebnis verdrängter Triebe und unverarbeiteter Außenreize. Du mußt wissen, sie leidet. Sie ist unverstanden, unterdrückt, kastriert. Sie hat irgendwo gelesen, daß die moderne, selbstbewußte Frau unglücklich zu sein hat, und sie will auch eine moderne, selbstbewußte Frau sein. Also hat sie Depressionen. Ach, Gott, wie depressiv sie ist. Und der Schuldige an dem ganzen Elend bin ich, der Mann, das Ungeheuer, der Patriarch. Der ihr beständig seinen Willen und seinen Penis aufdrängt. Eine Systemneurose: Macht kaputt, was euch kaputt macht und so weiter. Unter ihrem Kopfkissen hat sie ein großes Küchenmesser, um mir die Eier abzuschneiden, falls es meiner maskulinen Perversion gelüsten sollte, sie zu bumsen. Als ihr Ehemann und Arzt kann ich zwei Spätfolgen diagnostizieren: Erstens, ihre Kochkünste, mit denen es nie weit her war, verkümmern galoppierend. Zweitens, die Idiotie wächst dazu proportional. Sie wird verrückt. Als Arzt gebe ich ihr höchstens zwei Jahre, als Ehemann bin ich weniger optimistisch.
    Fred tätschelte ihr die Wange. Maria starrte auf ihre Zigarette. Sie reagierte nicht auf ihn. Ich sagte, daß ich mich gern hinlegen würde, und stand auf.
    Fred stellte sich mir in den Weg: Habe ich dir schon erzählt, daß sie sich von jedem Kerl bumsen läßt. Ich habe sie einmal erwischt. Ich komme nach Hause und hallihallo –
    Ich schob ihn zur Seite und ging in mein Zimmer hoch. Ich versuchte einzuschlafen. Ich dachte an Marias dünnes,blasses Gesicht. Ich fragte mich, wozu ich hergekommen war. Ihre Streitereien kannte ich von den vergangenen Besuchen. Warum mir jedes Jahr seine Tiraden anhören und ihre Verzweiflung erleben, all das, was sie so aussichtslos miteinander verbindet.
    Als ich aufwachte, stand Fred vor meinem Bett. Er sagte, daß Henry gekommen sei. Ich verstand ihn zuerst nicht. Ich war zu verschlafen und überrascht. Außerdem hatte Fred gesagt, daß mein »So-ziemlich« unten sei, und ich brauchte Zeit, bis ich begriff, daß er Henry meinte. Ich bat ihn, zu bestellen, daß ich gleich komme, aber er blieb neben dem Bett stehen. Ich sagte, daß ich mich anziehen wolle und er aus dem Zimmer gehen möchte. Er lachte albern, nahm meine Wäsche und reichte sie mir. Einen Moment sahen wir uns wortlos an. Ich wußte, welches Spiel nun folgen würde. Ich sollte ihn anbetteln, aus dem Zimmer zu gehen. Er würde sich weigern. Ich sollte schimpfen, laut werden, ihn anschreien, bis Maria oder Henry ins Zimmer kämen. Dann würde er den Überlegenen mimen, der das kleine Häschen verängstigt hatte. Er würde es als Spaß hinstellen, um mein verquetschtes Sexualleben offenzulegen. Er würde Henry lauthals bedauern und den ganzen Abend darüber sprechen, auch wenn keiner mehr bereit war, auch nur noch ein Wort darüber anzuhören. Es sollte eins seiner Gesellschaftsspiele werden. Ich glaube, er nennt sie angewandte Psychoanalyse. Der von allen Zwängen und Hüllen dessen, was wir Kultur nennen, befreite Mensch sei, wie er sagt, ein höchst einfach funktionierender Genitalapparat, der, endlich freigelegt, allen anderen menschlichen Bedürfnissen eine orgiastische Abfuhr erteilt, um sich als unabweisbarer, übermächtiger Trieb zu behaupten. Gelegentlich benennt ers einfacher: eine Reise in das Innere des Menschen, ein Besuch bei der wilden Bestie, dem Schwein. Sein Spiel kannte viele Variationen. Seine trüben Einfälle und die so provozierten Tränen oder kräftigenWorte, all die kleinen Demütigungen sollten ihm helfen, seine Langeweile zu vertreiben.
    Na schön, sagte ich, schlug die Decke zurück und stand auf. Ich zog mich an und war bemüht, mich dabei nicht übermäßig zu beeilen oder Nervosität zu zeigen. Seine Bemerkungen über meine Brüste und die Hüften überhörte ich. Es fiel mir nicht schwer, in meinen Ohren rauschte das Blut.
    Henry saß in der Küche. Er war kurz nach meiner Abfahrt bei Gertrud und Jochen erschienen. Die beiden hatten ihm beschrieben, wo er mich finden könnte. Er hatte mir vorher nichts gesagt. Er wollte mich überraschen.
    Wir tranken mit Maria Kaffee und gingen anschließend zum

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