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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Blättern. Ich spürte, wie Tränen mir ins Ohr liefen. Und immerzu dieser Zweig, ein fahles Blattgrün, durchsetzt von Lichtern und den bräunlichen Schatten des Waldes. Schatten und Licht, Hell Dunkel, Vordergrund Hintergrund, die Kühle der Erde, die Baumwurzel, die meinen Rücken wund rieb. Nein, dachteich, nein. Dann löste sich meine Wut, meine Verzweiflung. Löste oder vermischte sich unentwirrbar mit einer jäh aufbrechenden Lust, mit den tanzenden Blättern, mit Henrys keuchendem Atem, mit dem Gefühl endgültiger Einsamkeit.
    Wir blieben nebeneinander liegen, ohne jede Bewegung, wortlos, halb entblößt. Aus irgendeinem Grunde beschäftigte mich die Frage, wo wohl das Auto stand. Es interessierte mich aber nicht. Es war still im Wald. Ich hielt die Augen geschlossen. Das Licht drang als heller Schleier durch die Lider. Ich wollte ihn nicht sehen, nicht auf seine Fragen antworten, nicht erklären müssen, was ich nicht erklären konnte. Was sollte ich sagen. Ich verstand mich ja selbst nicht.
    Irgendwann gingen wir zum Auto und fuhren zurück. Mir war erbärmlich kalt, und ich zitterte. Da ich schwieg, stellte Henry das Autoradio an.
    Gegen zehn Uhr waren wir wieder in Berlin. Henry brachte mich bis zur Wohnungstür. Wir vermieden es beide, miteinander zu sprechen. Er verabschiedete sich fast höflich, und auch ich lächelte ihn freundlich an. Einen Kuß auf die Stirn. Bis bald. Schlaf gut. Ich schloß schnell die Tür hinter mir.
    Später schrieb ich einen Brief an meine Schwester. Ich zerriß ihn anschließend. Bevor ich ins Bett ging, nahm ich eine Beruhigungstablette. Das war bei mir nichts Besonderes. Dennoch lag ich lange wach. Ich ärgerte mich über mich selbst. Ich stellte den Fernseher an und blickte minutenlang in das helle, bildlose Rauschen. Dann blätterte ich in einer Musikerbiografie und überlegte, ob ich etwas trinken sollte. Im Kühlschrank fand ich eine angebrochene Wodkaflasche und goß mir ein Wasserglas voll ein. Ich stellte es an mein Bett. Es roch und schmeckte widerlich. Ich trank und starrte die Decke an. Es war kurz nach zwei, ich hörte den Fahrstuhl fahren. Ich sagte zu mir, du hast einbißchen geweint, nun laß es gut sein. Nun wollen wir schlafen. Du willst doch ein großes Mädchen werden. Nein, Mama, ich will es nicht. Ich will kein großes Mädchen werden. Aber du hast noch so viel vor dir. Ich will nicht, Mama, ich will nicht.

6
    Ende Juni nahm ich meinen Urlaub. Ich fuhr an die See. Mit Henry hatte ich vereinbart, daß wir den Urlaub getrennt verleben. Ein zeitweiliges Alleinsein, ein Abstand von allen eingegangenen Verpflichtungen, ein Urlaub von der Wirklichkeit. Uneingestanden wohl auch die Furcht vor allzu großer Nähe, dem Verlust an Fremdheit, den ein für Wochen tägliches und stündliches Zusammenleben mit sich bringen würde. Die Vorstellung, im Urlaub Tag für Tag, vierundzwanzig Stunden auf einen anderen Rücksicht zu nehmen, war mir unerträglich. Ebenso der Gedanke, ein anderer müsse sich meinetwegen irgendwie einschränken.
    Henry war schnell darauf eingegangen. Er schien sogar erleichtert zu sein.
    Am Tag meiner Abfahrt fuhr er zwei Stunden später in sein Büro, um mir noch den Koffer zum Wagen zu tragen. Wir setzten uns in das Café gegenüber. Henry hielt meine Hand und sah mich schweigend an. Am Nachbartisch saßen zwei Frauen, beide Mitte Vierzig, beide mit gefärbten Haaren, blond und rotblond.
    Blond hielt in der offenen, rechten Hand einen Ring und eine Kette, die sie gedankenverloren immer wieder mit den Fingern der anderen Hand hochnahm und in den Handteller zurückfallen ließ. Dabei liefen ihr unaufhörlich Tränen über das stark geschminkte Gesicht und verschmierten es. Sie heulte fast tonlos. Nur ein zartes, sehr hohes Wimmern war zu hören.
    Rotblond redete auf sie ein. Sie stieß kurze Sätze aus und sah dann dumpf und mit hilflos hängendem Kinn die Freundin an. Blond reagierte überhaupt nicht. Rotblond sagte, daß irgend jemand ein brutales Schwein sei, dem man mit dem Absatz in die Eier treten sollte. Dann erkundigtesie sich, was er gesagt habe. Da sie keine Antwort bekam, ließ sie wieder ihr Kinn hängen. Ihr schwarzer Rock war hochgerutscht. Sie schwitzte. Sie trank den Schnaps aus und sagte: Er hat angewachsene Ohrläppchen. Solche mit solchen Ohrläppchen sind schlechte Menschen.
    Ich lächelte. Ich kannte das Spiel.
    Blond schüttelte langsam den Kopf. Sie hob die Augen nicht vom Schmuck in ihrer Hand, als sie sagte: Nein, er

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