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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Freundschaften, Liebe und den unendlichen Heimlichkeiten.
    Henry und ich lachten viel während der Fahrt, und mein plötzlicher Einfall, die Heimatstadt zu besuchen, erschien mir jetzt nicht mehr seltsam oder einer Erklärung bedürftig wie noch vor Stunden.
    Als wir ankamen und durch G. fuhren, spürte ich eine aufkommende Beklommenheit. Um mich abzulenken, redete ich viel. Ich sagte Henry, wie er fahren müsse, um zu dem Hotel zu kommen. Da ich mich nur ungenau erinnerte, dauerte es einige Zeit, bis wir am »Goldenen Anker« ankamen.
    An der Rezeption mußten wir warten, bis endlich ein Mädchen aus der Küche erschien. Sie war dick und mißtrauisch und antwortete einsilbig. Für Henry bekamen wir noch ein Zimmer, ein Zweibettzimmer war nicht frei.
    Während wir die Anmeldungen ausfüllten, musterte sie uns eindringlich. Dann gab sie uns die Schlüssel und wies auf ein Schild mit den Essenszeiten. Sie las sich unsere Anmeldungen durch. Dann griff sie nach einem dicken Buch und übertrug unsere Namen und Adressen.
    Ich war bereits auf dem Weg zur Treppe, als mir einfiel, sie nach den anderen Gästen zu fragen. Sie verstand mich nicht, und ich mußte ihr erklären, warum ich fragte. Dann sagte sie: Es sind Dienstreisende und so. Leute wie Sie.
    Ich bat sie, in das Gästebuch einsehen zu dürfen. Sie sah mich verwundert an, klappte das Buch schweigend zu und steckte es in ein Schubfach. Sie legte beide Hände auf das Pult, zwei rote, rissige Hände, die das Gästebuch für mich endgültig versiegelten, und blickte mich gleichgültig an. Sie würde erst wieder in ihrer Küche verschwinden, wenn ich in mein Zimmer gegangen war.
    Henry fragte mich, was ich von ihr wollte. Ich lachte undsagte, daß ich mich plötzlich gefragt hätte, wer außer uns noch einen Grund habe, nach G. zu fahren und hier zu übernachten, in diesem kleinen, unbedeutenden Nest. Und mir wäre der Gedanke gekommen, daß es möglicherweise meine Schulkameraden seien. Ich sah sonst für keinen Menschen einen Grund hierherzufahren. Einen Moment war ich ganz sicher gewesen, daß in allen Zimmern des »Goldenen Ankers« zurückgekehrte Schulfreunde wohnen, die wie ich für ein paar Tage ihren Erinnerungen nachgehen wollten.
    Es war dumm von mir, sagte ich, ich weiß, aber es wäre doch lustig.
    Am Nachmittag liefen wir durch das Städtchen. Alles war klein, viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Dennoch, es schien mir unverändert. Selbst die verblaßte Schrift über dem Lebensmittelladen gegenüber der alten Schule behauptete sich noch immer gegen Wetterunbilden und den Gang der Geschichte: Colonialwaren, Südfrüchte, Importe.
    Ich lief durch die Stadt wie mit einer Tarnkappe versehen: Ich sah und erkannte wieder, und keiner erkannte mich. Ich war über fünfundzwanzig Jahre nicht mehr in G. gewesen. Es schien nichts verändert, und ich wußte, daß alles anders war, anders sein mußte. Doch ich würde die Veränderungen nicht bemerken. Für mich würde G. die Stadt eines zwölfjährigen Mädchens bleiben, angefüllt mit den Hoffnungen und Schrecken eines Kindes, dem ich mich eigentümlich distanziert verbunden fühlte.
    Da wir kein Mittag essen wollten, kaufte ich in der Bäckerei am Markt Kuchen. Eine blonde junge Frau stand hinter dem Ladentisch und fragte sehr freundlich nach meinen Wünschen. Ich sah, daß man die Regale erneuert hatte, aber die Wände waren noch immer gefliest wie in einer Fleischerei. Rechts führte eine Tür in den Backraum. Sie stand offen wie früher. Hinter der zweiten Tür, mit einerGlasscheibe und weißen Gardinen versehen, lag die Wohnung des Bäckers Wirsing. Frau Wirsing schaute damals gelegentlich durch die Gardine in den Verkaufsraum. Wenn die Kunden anstanden oder sie eine Bekannte entdeckte, kam sie raus und bediente selbst.
    Die blonde Verkäuferin schlug mit geschickten, schnellen Bewegungen das Papier um meinen Kuchen zusammen. Ich fragte sie, ob die Chefin da wäre und zu sprechen sei.
    Einen Moment, sagte sie und klopfte an die kleine Glasscheibe mit der Gardine. Die Tür ging auf, und die Verkäuferin sagte etwas, das ich nicht hören konnte. Dann erschien eine fünfzigjährige, füllige Frau in der Tür. Ihr Haar war dunkelrot gefärbt mit einer silbernen Locke. Sie trug eine Küchenschürze. Als sie auf mich zukam, zog sie fragend die Lippen zusammen.
    Ja, bitte, sagte sie.
    Ich antwortete nicht. Sie blieb vor mir stehen, die Lippen unverändert gespitzt.
    Haben Sie einen Wunsch?
    Ich schüttelte den

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