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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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die einfachsten Übungen zu bewältigen. Der zu erwartende bissige Spott des Lehrers lastete wie Blei auf uns, bevor sich die schwitzenden Hände an Holme, Stangen, Seile klammerten. Die Bemerkungen von Herrn Ebert träufelten auf uns wie eine klebrige, alles verschmierende Masse, die uns starr und leblos machte. Daß seine Ausdrücke uns tiefer verletzen sollten als nur in unserem sportlichen Ehrgeiz – »Matschpflaumen« waren ausschließlich die Mädchen, »Saftsack« galt für die Jungen –, begriffen wir erst später. Begriff ich erst später.
    Ich weiß nicht mehr, wie der Sportlehrer an der Oberschule hieß. In meiner Erinnerung ist es Herr Ebert, aber ich weiß, daß ich mich täusche. Es muß ein anderer Lehrer gewesen sein, es war eine andere Schule und eine andere Stadt. Es war alles anders, und doch hatte sich wenig geändert. Dem neuen Herrn Ebert gefiel es, sich vorturnen zu lassen. Die drei, vier schönsten und entwickeltsten Mädchen ließ er unentwegt am Reck sich überschlagen oder Gymnastik treiben. Mit hochroten Köpfen turnten die Mädchen unter den genüßlichen Blicken des Lehrers immer wieder die Übungen vor, während der Rest der Klasse, glücklicherweise gehörte ich zu ihm, zu den Spätentwicklern, leise kichernd das Spiel des Sportlehrers mit den Mitschülerinnen beobachtete. Wir bedauerten und gleichzeitig beneideten wir sie. Es gab Turnstunden, in denen ich nur auf der Bank saß und zusah, wie der neue Herr Ebert wohlwollend auf seine Auserwählten einredete, sie immer wieder dazu bewog, vor ihm zu springen und sich zu bewegen, wobei er ihnen reichlich mit Hilfestellungen, einem amtlich sanktionierten Betasten von Mädchenkörpern, beistand.
    Noch Jahre nach der Schule belastete es mich, unsportlich zu sein, ungelenk, eine »Matschpflaume«. Und als ich endlich darüber sprechen konnte, zeigte sich zögernd und vorsichtig, daß die Erinnerungen der anderen ähnlich waren. Jeder hatte seinen Herrn Ebert, jeder spürte noch Jahrenach der Schule den festen und schmerzlichen Griff, die ätzenden Bemerkungen. Ich glaube jetzt, meine Generation ging in den Turnhallen ihrer Schulen so nachhaltig auf die Matte, daß es uns noch immer in allen Gliedern steckt (auch in der Matschpflaume und dem Saftsack). Irgendwie haben uns die Leibesertüchtigungen gründlich lädiert.
    Natürlich ist das alles von mir übertrieben, zugespitzt subjektiv, unhaltbar. Eine verstiegene, private Ansicht, ohne ausreichende Kenntnis der wirklichen Probleme, Schwierigkeiten und Erfolge.
    Natürlich fehlt mir die Übersicht, um solche Erlebnisse richtig einschätzen zu können. Mir fehlt die Übersicht, weil ich noch immer auf der Matte liege.
    Henry hatte mir aufmerksam zugehört. Lächelnd sagte er dann nochmals: Gib es endlich auf.
    Am Abend wollten wir ins Kino gehen, um nicht im Hotelrestaurant oder in unseren Zimmern sitzen zu müssen. Im »Schwarzen Löwen«, einer Bierkneipe, aßen wir zuvor. Es gab nur Gulaschsuppe, und wir ließen uns jeder eine Terrine mit drei Portionen geben und einen Teller Brot. Wir hatten Hunger und wollten nicht zurück ins Hotel. Andere Gaststätten gab es nicht, oder sie waren bereits geschlossen. Die Suppe schmeckte wäßrig, und wir aßen viel Brot. Die Einheimischen tranken still ihr Bier und beobachteten uns. Es waren ältere Männer da und Männer in meinem Alter. Ich kannte keinen.
    An der Kinokasse mußten wir warten. Die Kassiererin erklärte uns, daß sie den Film nur zeigten, wenn mindestens fünf Besucher da seien. Vor dem Kino standen zwei Halbwüchsige. Wir warteten im Foyer und rauchten.
    Fünf Minuten nach acht kamen die beiden Jungen mit zwei Mädchen rein und verlangten vier Karten. Die Kassiererin griff mürrisch nach der Kartenrolle. Eins der Mädchen sagte, es wolle nicht ins Kino gehen, und rannte hinaus. Ihre Freundin folgte ihr. Dann lief einer der Jungenhinter ihnen her und kam mit den beiden zurück. Er hatte einen Finger in das Haar des einen Mädchens gewickelt und zog sie so hinter sich her. Vor der Kasse ließ er sie frei. Die Mädchen wollten jetzt den Film sehen, doch sie wollten nicht selbst bezahlen. Sie verlangten, daß die Jungen ihnen die Karten kauften. Aber die weigerten sich, und als die Kassiererin sie wütend anherrschte, holten die Mädchen schließlich ihr Geld hervor.
    Das Kino war unverändert. Noch immer dieselben Klappstuhlreihen mit dem verschlissenen roten Bezug und die olivgrüne Lackierung der Wände.
    Der Vorführer hatte den Film

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