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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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dann gleich selbst: Alles im Griff.
    Er zwinkerte selbstgefällig und ging mit seinen Freunden in den Saal. Wir sahen ihm nach. Sie gingen durch die Reihen und stießen hier und dort ein paar Leute an. Einen Mann, der unter den Tisch gesunken war, zogen sie hoch und brachten ihn raus. An der Treppe gaben sie ihm einen Stoß. Der Betrunkene taumelte die Stufen hinunter, ohne hinzufallen, und landete vor der Garderobe. Die beiden, die ihn hinuntergestoßen hatten, lachten und kamen zu uns. Der Junge zwinkerte wieder selbstbewußt und meinte: Rationelles Arbeiten hier.
    Dann gingen sie wieder in den Saal.
    Der Ordnungstrupp, erklärte uns der Musiker, ohne die sähs hier bunter aus.
    Ich konnte es mir vorstellen.
    Das Gelbe vom Ei ist es nicht, nicht für mich, sagte die Sängerin.
    Was haben Sie vor? fragte ich.
    Weiß nicht. Irgendwas andres. Der Scheiß ist, du lernst hier keinen Vernünftigen kennen. Hier besäuft sich alles, und meine Jungs wolln nur was fürs Bett festmachen.
    Der Musiker protestierte.
    Ist doch wahr, unterbrach sie ihn, wer kommt hier schon her.
    Sie mußte so alt sein wie ich. Die viele Schminke machte sie älter.
    Du hast nie ein vernünftiges Gespräch, verstehst du, sagte sie zu mir.
    Wir gingen die Treppe runter. An unserem Rettungswagen standen die beiden Polizisten und sprachen mit dem Fahrer.
    Henry fragte sie: Auf was warten die da oben? Sie kommen her und warten.
    Ach was, sagte ein Polizist, die wollen nur saufen.
    Saufen und Krawall machen, bestätigte der andere.
    Dann lachten sie beide.
    Nein, widersprach Henry, sie warten, daß irgend etwas passiert. Sie hoffen, daß etwas geschieht. Irgend etwas, vielleicht ihr Leben.
    Die Polizisten sahen sich an. Sie schwiegen vielsagend. Als wir in den Wagen stiegen, fragte einer von ihnen Henry: Sind Sie Arzt?
    Ja, erwiderte ich, und Henry sagte gleichzeitig: Nein.
    Also was? fragte der Polizist.
    Er ist mein Mann, sagte ich.
    Der Polizist nickte. Dann wandte er sich an mich und meinte: Ihr Mann darf im Rettungswagen nicht mitfahren, das wissen Sie.
    Keiner erwiderte etwas. Wir fuhren los.
    Den Rest der Nacht verbrachte Henry mit mir im Arztzimmer. Wir hatten noch zwei Einsätze zu fahren. Henry kam jedesmal mit. Ich glaube, er war irgendwie enttäuscht. Sehr aufregend ist meine Arbeit nicht.
    Jedenfalls wollte ich ihn nicht noch mal während des Dienstes bei mir haben. Deswegen bat ich ihn zu gehen. Ich stand vor der Klinik und sah seinem Wagen nach. Es war kalt, und ich fröstelte. Der Himmel war wolkenlos und zeigte gleichmütig die Pracht seiner Sterne. Das Blut in meinem Kopf pochte. Das kam von der Müdigkeit. Ich atmete tief durch. Dann ging ich ins Haus.

9
    Mitte Oktober fuhr ich nach G. Ich hatte zwei freie Tage, die ich nicht in Berlin verbringen wollte.
    Die Fahrt kam für mich selbst überraschend. Einen Tag vorher, am Mittwoch, rief ich das einzige Hotel in G. an und bekam noch ein Zimmer für eine Nacht.
    Warum ich nach G. fahren wollte, kann ich nicht sagen. Ich habe dort meine Kindheit verbracht. Als ich vierzehn Jahre alt war, zogen meine Eltern um. Seitdem war ich nie wieder in dieser Stadt gewesen.
    Ich rief Henry auf seiner Arbeitsstelle an und sagte ihm, daß ich für zwei Tage Urlaub mache. Er fragte, ob er mitkommen könnte. Ich sagte, es werde für mich so etwas wie eine Fahrt in die Vergangenheit sein, er würde sich langweilen. Zwei Stunden später rief ich noch mal an und sagte, daß ich mich freuen würde, wenn er mitkäme. Er lachte über mich und fragte, ob ich fürchte, die Gespenster der Vergangenheit zu wecken, oder was sonst meinen Sinneswandel herbeigeführt habe. Ich sagte, daß ich alles nicht überlegt und eigentlich keinen rechten Grund habe, nach G. zu fahren. Und wenn ich etwas befürchte, dann nur, mich zwei Tage lang in einem kleinen Nest zu langweilen, mit dem ich überhaupt nichts gemein habe. Er riet mir, in irgendeine Stadt zu fahren, nur nicht nach G. Er sagte etwas von einem unbedachten Weg zurück in ein überholtes Vorher und daß mir das nicht helfen könne. Ich sagte, ich wolle es mir nur ansehen, meine Erinnerungen überprüfen, nicht mehr.
    Wir verabredeten uns zum Frühstück.
    Am nächsten Morgen fuhren wir gegen neun Uhr los. Wir fuhren mit Henrys Wagen. Unterwegs meinte er, ich solle etwas von G. erzählen, von meiner Kindheit. Ich beschriebihm die Stadt, unser Haus. Ich erzählte von meinen Eltern und meiner Schwester, und ich sprach von der Schule, dem kleinen Klassenzimmer, von

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