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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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bereits anlaufen lassen, als wir an der Kasse standen. Das Saallicht war eingeschaltet. Es war ein spanischer Film über einen Arbeiter, der von seinem Chef entlassen wird und mit der Familie aufs Dorf zieht. Es gab schöne Landschaftsaufnahmen. Wir langweilten uns und gingen hinaus. Auch die Halbwüchsigen sahen nicht mehr zu. Sie saßen eng umschlungen und küßten sich.
    Die Tür im Foyer war abgeschlossen. Wir mußten die Kassiererin holen, damit sie uns hinausließ. Als sie die Tür aufschloß, war sie gekränkt und sah uns feindselig an. Wenn wir nicht gekommen wären, hätte sie bereits Feierabend. Sie fühlte sich betrogen.
    Auch das Hotel war bereits geschlossen. Eine Nachtklingel rief einen verkrüppelten Portier herbei, der uns einließ und die Zimmerschlüssel gab. Es war erst neun Uhr, aber ich wollte schlafen und verabschiedete mich von Henry.
    Eine Stunde später stand ich wieder auf, zog mich an und ging zum Portier hinunter. Ich fragte ihn, ob er mir eine Flasche Wein verkaufen könne, und er erwiderte, daß es um diese Zeit nicht möglich sei. Ich gab ihm dann zehn Mark, und er holte mir drei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank. Wieder in meinem Zimmer, setzte ich mich in den Sessel und rauchte. Ich wußte, daß ich die nächsten zwei,drei Stunden nicht einschlafen würde. Ich kannte mich, ich mußte es nicht erst versuchen.
    Die Reise nach G. war unsinnig. Jetzt bedauerte ich, mit Henry gefahren zu sein. Eine selbstverschuldete Peinlichkeit läßt sich allein besser überstehen. Die Vergangenheit ist nicht mehr auffindbar. Es bleiben nur die ungenauen Reste und Vorstellungen in uns. Verzerrt, verschönt, falsch. Nichts ist mehr überprüfbar. Meine Erinnerungen sind unwiderleglich geworden. Es war, wie ich es bewahrt habe, wie ich es bewahre. Meine Träume können nicht mehr beschädigt werden, meine Ängste nicht mehr gelöscht. Mein G. ist nicht mehr vorhanden. Diese Stadt hat die frühere Stadt längst und vollständig vergessen. Das steinerne Zeugnis lügt von einer Gemeinsamkeit, aber der Regen hat die Zeit unauffindbar hinweggespült. Es gibt keine Wiederkehr, keine Heimfahrt. Hinter uns sind nur brennende Städte, und die Umkehrende, die Zurückblickende erstarrt zu einer Säule bitteren Salzes.
    Die alte Schule war ein Lagerraum geworden. Ihr gegenüber stand ein neuer Flachbau mit großen Fenstern, in dem jetzt unterrichtet wird. Ich hatte am Nachmittag versucht, in die alten Klassenzimmer zu sehen, doch die Scheiben waren blind, sie spiegelten undeutlich mein Gesicht. Henry drängte weiterzugehen. Im oberen Stockwerk hatte man die Fenster zugenagelt. In dem Klassenzimmer, in dem ich mit einundzwanzig Mitschülern um die Liebe allmächtiger Lehrer gebuhlt hatte, um die Schrecken unserer Ohnmacht und Abhängigkeiten zu mildern oder einzuschläfern, war die Wand durchbrochen. An einem über dem Durchbruch herausragenden Balken hing ein Flaschenzug. Hier hatte uns Herr Gerschke unterrichtet, der Geschichtslehrer.
    Ich glaube, Herr Gerschke wurde von allen Mädchen geliebt. Er ging auch im Hochsommer stets mit Anzug und Krawatte. Er war gerecht, und das war das höchste Lob, das wir einem Lehrer gaben. Ich lernte nur für ihn. Nur fürihn las ich zusätzliche Bücher, die mich langweilten, in der Hoffnung, von ihm gelobt zu werden. In der sechsten Klasse verschwand er plötzlich. Es gab viel Aufregung in der Schule und in der Stadt. Es hieß, er habe sich an einer Schülerin aus der neunten Klasse vergriffen. Ich war entsetzt. Ich stellte mir vor, Herr Gerschke habe das Mädchen verprügelt, sie geschlagen. Etwas anderes konnte ich mir unter dem Wort »vergriffen« nicht vorstellen, und diese Vorstellung war mir unerträglich. Als ich mit einer Mitschülerin darüber sprach, sagte sie, daß ich dämlich sei und Herr Gerschke das Mädchen aus der Neunten keineswegs mit den Händen bearbeitet hätte, im Gegenteil. Ich verstand sie nicht, und sie sagte, daß er eine Liebschaft mit ihr gehabt hätte. Ach so, sagte ich und gab vor, begriffen zu haben. Etwas wie Neid auf dieses Mädchen aus der neunten Klasse stieg in mir auf, ein Neid, der mehr eine Sehnsucht danach war, endlich auch alt genug zu sein, um Herrn Gerschke auf mich aufmerksam zu machen. Er sollte mich nicht mehr nur meiner zusätzlich gelesenen Bücher und meiner eifrigen Mitarbeit wegen loben, er sollte mich selbst wahrnehmen.
    Ich verstand allerdings nicht, warum es so schlimm war, daß er eine Liebschaft mit einer Schülerin hatte.

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