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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Kopf: Entschuldigen Sie bitte, es war eine Verwechslung.
    Ich bezahlte, nahm mein Kuchenpaket, und wir gingen hinaus. Die neue Chefin und ihre Verkäuferin sahen uns nach.
    Laß das sein, sagte Henry sanft, als wir draußen standen.
    Früher, sagte ich, bekamen wir von Frau Wirsing Kuchenränder. Für zehn Pfennig eine riesige Tüte mit Kuchenrändern. Wir haben uns hier jeden Nachmittag damit vollgestopft.
    Henry nickte begütigend.
    Bis zum Abend liefen wir kreuz und quer durch die Stadt. Wir gingen auf den Mühlberg und zur alten Mühle. Ich zeigte ihm die beiden touristischen Sehenswürdigkeiten von G., den Luisenstein und das Schillerzimmer. Wir gingenauch zur Bismarck-Gärtnerei, die vor der Stadt liegt, eine weitflächige Gartenanlage mit Springbrunnen und einem kleinen Tierpark. Jetzt waren dort Rehe, eine Bergziege und Papageien. Der Käfig, in dem damals eine Schnee-Eule saß, stand leer. Ich staunte, wie wenig Tiere hier waren. In meiner Erinnerung gab es Braunbären, Esel und Wölfe. Ich mußte mich geirrt haben. Es gab gar keinen Platz. Sie konnten auch damals nicht vorhanden gewesen sein.
    Henry gefiel die Gärtnerei. Er fragte, ob ich nicht auch Lust hätte, hier als Gärtner oder Tierwärter zu arbeiten.
    In der Stadt, vor dem Schreibwarenladen, kam uns eine Frau mit einem Kind an der Hand entgegen. Ich erkannte sie augenblicklich. Es war Lucie Brehm. Ich wollte sie ansprechen. Henry bemerkte es und faßte nach meiner Hand. Gib es auf, sagte er leise und nachdrücklich. Er hatte recht, er war der Vernünftigere von uns. Es war ein unüberlegter Impuls von mir.
    Lucie Brehm, oder wie sie jetzt heißen mochte, mußte meinen Blick bemerkt haben. Sie sah mich an, und ich lächelte ihr zu. Unbewegt sah sie zu mir. Sie war schöner geworden. Das dumme, dickliche Kindergesicht hatte sanfte, gleichmäßige Linien bekommen. Ihre Augen blickten wie früher hilflos, aber was uns damals verlogen und unterwürfig erschien, hatte jetzt etwas von einem alles verstehenden Schimmer.
    Mein Lächeln verwunderte sie. Sie sah mich nachdenklich an. Dann wandte sie sich ab und ging, das Kind hinter sich herziehend, an mir vorbei.
    Ich erzählte Henry von ihr. Lucie saß zwei Reihen vor mir. Sie war nicht beliebt in der Klasse. Es gab dafür eigentlich keinen Grund, und sie versuchte immer wieder, mit einem Mädchen Freundschaft zu schließen. Es gelang ihr nicht, sie wurde einfach nicht angenommen. Irgend etwas an ihr störte uns. Ich weiß nicht, was es war, und ich wußtees auch damals nicht. Es war ein ungeschriebenes Gesetz der Klasse, sich nicht mit ihr zu befreunden. Ich hätte nie gewagt, dagegen zu verstoßen, und sicher wollte ich es auch nicht. Als einzige von uns besaß sie keinen Sportdreß. Sie turnte in ihrer rosa Unterhose. Einmal, als sie am Reck hing, zog ihr ein Mädchen blitzschnell dieses rosa Höschen aus, und Lucie ließ sich vor Schreck und Scham auf die Matte plumpsen. Wir amüsierten uns sehr, und auch der Sportlehrer lachte. Wir fanden es komisch, wie sie versuchte, ihre Hose wiederzubekommen, die nur ein paar Schritte von der Matte entfernt lag. Lucie wollte nicht aufstehen, um sich nicht vollständig zu entblößen, und, eine Hand auf die zusammengepreßten Schenkel drückend, angelte sie nach dem rosa Höschen. Keine von uns half ihr. Schließlich kam Herr Ebert, unser Sportlehrer, und hob die Unterhose mit zwei Fingern hoch. Er hielt sie über Lucies Kopf. Sie versuchte, sie zu erreichen, was ihr, ohne aufzustehen, nicht möglich war. Dann ließ Herr Ebert die Hose fallen, und Lucie zog sich hastig an. Sie weinte überhaupt nicht, was mich verwunderte. Sie war auch nicht wütend. Sie sah uns beschämt und demütig an, noch immer um unsere Liebe bettelnd. Es hieß, sie sei schleimig, und keine wollte mit ihr zu tun haben.
    Vor Herrn Ebert fürchteten wir uns alle. Selbst die Sportskanonen in unserer Klasse fürchteten ihn. Sie waren seine Lieblinge, und er rächte sich erbarmungslos, wenn ihn seine Lieblinge enttäuschten. Die von ihm bevorzugten Beschimpfungen lauteten »Matschpflaume« und »Saftsack«, Worte, die er langsam und genüßlich zerdehnte, während die so Angeredeten unglücklich an einer Reckstange oder zwischen den Holmen eines Barrens hingen. Wir anderen lachten. Wir lachten um so lauter und begeisterter, je unausweichlicher das Schicksal, an das Sportgerät zu gehen, sich uns näherte. Die drohende Gefahr, lächerlich gemacht zu werden, verkrampfte uns und machteuns unfähig,

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