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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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angetane Gewalt an jener Lehrerin, die sich als einzige bereit zeigte, uns als kleine, komplizierte und eigenständige Persönlichkeiten zu akzeptieren.
    Anjenem Tag stürzten die Jungen mitten im Unterricht an die Fenster und schrien: Die Panzer kommen, die Panzer kommen.
    Wir hörten das mahlende, klirrende Geräusch der Panzerketten. Dann wurde es still.
    Nach dem Unterricht ging keiner nach Hause. Wir wußten alle, unsere Eltern würden uns nicht mehr auf die Straße lassen, obgleich die Sperrstunde erst am Abend begann. Wir rannten zum Marktplatz. Es war nur ein einziger Panzer nach G. gekommen. Er stand mitten auf dem Platz. Das Rohr des Geschützes war mit einem Futteral überzogen und gegen das alte, verwitterte Kriegerdenkmal gerichtet, das wir in diesen Tagen zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Am Vortag hatten Unbekannte das Holzgerüst mit der großen, ausgesägten Friedenstaube und dem Fahnenschmuck zusammengeschlagen, unter dem das alte Monument verborgen war.
    Wir standen mit anderen Leuten auf dem Bürgersteig und betrachteten den Panzer. Es tat sich nichts. Die Leute flüsterten nur miteinander. Später ging die obere Panzerklappe auf, und ein junger, russischer Soldat sah heraus. Er schien keine Angst zu haben. Er nickte zu uns herüber. Dann stieg er aus. Ein Polizist trat zu ihm. Der Soldat sagte etwas und gestikulierte. Dann trat er mit dem Stiefel gegen die Panzerkette. Der Polizist nickte und gestikulierte gleichfalls erklärend mit den Händen. Dann trat auch er gegen die Panzerkette. Sie kauerten sich hin und sahen beide unter den Panzer. Offenbar erklärte der Soldat etwas. Dann stieg er wieder ein. Die Klappe wurde geschlossen. Es blieb ruhig, und ich langweilte mich. Wir gingen nach Hause.
    Der Panzer blieb nur drei Tage in G. Er verschwand so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Die Jungen erzählten, er hätte nachts einen Schuß abgegeben, der gleich vier Häuserwände durchbrochen hätte. Doch die Erwachsenen sagten,das sei Unsinn. Zerstört worden war nur das Holzgerüst mit der ausgesägten Friedenstaube und den Fahnen.
    Mein Vater erzählte, daß man die Frau des Schusters abgeholt habe. Sie hatte das Beil gebracht, mit dem unbekannte Männer das Friedensmal zertrümmerten. Auch den Schuster, ihren Mann, brachte man in die Kreisstadt, doch zwei Tage später war er wieder in G.
    In der Fabrik, in der Vater als Meister arbeitete, blieb alles ruhig. Trotzdem war Vater erregt und schrie mit meiner Mutter herum. Ich verstand nichts davon. Vater sagte mir, ich solle in der Schule keine Fragen stellen und nicht darüber diskutieren. Es sei jetzt nicht der Zeitpunkt. Im Unterricht wurde aber ohnehin nicht darüber gesprochen. Keiner der Schüler fragte nach etwas, und die Lehrer sagten gleichfalls nichts. Ich begriff nicht, warum darüber nicht gesprochen werden durfte. Aber da tatsächlich keiner der Erwachsenen über den Panzer sprach, spürte ich, daß auch ein Gespräch etwas Bedrohliches sein konnte. Ich fühlte die Angst der Erwachsenen, miteinander zu reden. Und ich schwieg, damit sie nicht reden mußten. Ich fürchtete, daß nach einem ihnen aufgenötigten, quälenden Gespräch über eins ihrer Tabus mich wiederum sieche, widerliche, geschlechtskranke Leute bis in meine Träume hinein verfolgen würden. Ich lernte zu schweigen.
    Nur mit Katharina sprach ich darüber, meiner besten Freundin. Wir unterhielten uns auf den langen Spaziergängen, auf dem Schulweg, an den Nachmittagen. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Sie war die Tochter eines im Krieg gefallenen Elektrikers. Mit ihrer Mutter und drei älteren Brüdern wohnte sie in einem kleinen Haus vor dem Mühlendamm. Die Mutter und zwei der Brüder arbeiteten in derselben Fabrik wie mein Vater. In G. gab es damals nur eine Fabrik.
    Katharina und ich sahen uns täglich, auch nach Schulschluß. Nach den Schularbeiten ging ich zu ihr, um sie abzuholen.Hand in Hand liefen wir stundenlang durch das Städtchen, gingen zusammen ins Kino oder saßen in ihrem Zimmer und fanden dennoch nie genügend Zeit für unsere Gespräche.
    Gelegentlich sprachen auch ihre älteren Brüder mit mir. Etwas ironisch und herablassend unterhielten sie sich mit der Freundin ihrer kleinen Schwester, doch immer waren sie höflich und bereit, uns zu helfen. Ich glaube, ich war in alle drei Brüder verliebt. Und sosehr ich ihre Anwesenheit wünschte und ihre Aufmerksamkeit, so sehr quälte mich dann meine Verlegenheit, die mich ihnen gegenüber befangen und

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