Der fremde Freund - Drachenblut
Als ich mit meiner Mutter darüber sprach, entschloß sie sich, mich aufzuklären. Durch den Vorfall an der Schule beängstigt, tat sie es rabiat. Mit den Illusionen zerstörte sie in mir meine schönste Hoffnung, den Wunsch, schnell erwachsen zu werden. Ich wollte nicht mehr heiraten oder wenn doch, dann sehr spät. Ich wußte nun, daß man sich keinesfalls zu früh mit einem Mann einlassen durfte, daß man sich seiner Liebe durch jahrelanges Warten versichern mußte, daß jede Frau nur einen einzigen Mann lieben durfte, für den sie sich bewahren mußte. Schreckliche Krankheiten, sieche Gestalten voller Auswüchse und Eiter, ein Leben, das nur noch den Tod erhofft, waren mahnende, eindringliche Gespenster,die mich für Jahre verfolgten. Ich war sechzehn, als ich das erste Mal einem Jungen gestattete, mich zu küssen. Und ich weiß, daß ich anschließend nach Hause stürzte, um mich von Kopf bis Fuß gründlich zu säubern.
Jahre später, ich studierte bereits Medizin, lernte ich bei einem Wochenendbesuch den Freund meiner kleinen Schwester kennen. Sie war damals sechzehn und ihr Freund Anfang Vierzig. Er hatte graumelierte Schläfen und am Ringfinger den hellen Schatten eines abgestreiften Eherings. Fassungslos beobachtete ich meine Eltern. Sie nahmen ihn herzlich und unbefangen als Freund ihrer jüngsten Tochter auf. Er, der kaum jünger als meine Eltern war, wurde von ihnen wie selbstverständlich akzeptiert. Alle ihre Schrecken und Ängste waren verschwunden. Sie hatten sich von ihnen befreit, indem sie sie dem kleinen Mädchen übertrugen, das ich damals war. Sie waren die bedrückende Sorge los, ich mußte damit leben. Jahrelang war mein Kopf mit verquasten Bildern von Sexualität verklebt.
Herr Gerschke und das Mädchen aus der neunten Klasse blieben verschwunden. Das Mädchen war mit ihren Eltern verzogen. Von Herrn Gerschke hieß es, er sei in einem Zuchthaus. Später erfuhren wir, daß er in einer anderen Stadt als Lehrer arbeitete. Er sei rehabilitiert worden. Sein Vergehen war allein der Phantasie und dem Wunschtraum jenes Mädchens entsprungen.
Wir spürten die Aufregung der Lehrer, ihre Nervosität. Und wir begriffen schnell, daß wir uns in unserer Ohnmacht nicht nur durch Willfährigkeit schützen konnten, daß Rettung nicht nur im bereitwilligen, vollständigen Sichausliefern bestand, sondern daß auch die allmächtigen Lehrer gefährdet waren. Gefährdet durch uns.
Unsere Klassenlehrerin wurde für zwei Jahre Fräulein Nitschke, eine ältere, alleinstehende Frau. Ein Fräulein. Hager und kränklich saß sie mit ihrem stark gepuderten Gesicht hinter dem Lehrertisch und las uns Verse und ausgewählteProsa vor. Sie versuchte, uns in die Schönheiten der Sprache einzuführen, doch wir waren darauf trainiert, Aufmerksamkeit oder auch nur geheucheltes Interesse allein bei angedrohten und gelegentlich auch ausgeführten Strafen aufzubringen. Sie erwies sich als unfähig dazu, und wir ließen sie dafür leiden. Es berührte sie sichtlich, wenn eine dumme Bemerkung, ein einfallsloser Witz unsere einzige Reaktion auf eines der von ihr vorgetragenen romantischen Gedichte war. Sie bestrafte uns nicht, sie zeigte, daß unsere Dummheit und unser Unverständnis sie schmerzten. Sie wollte uns wohl erziehen, indem sie die ihr von uns zugefügten Demütigungen nicht verbarg. Sie hoffte, daß ihre Betroffenheit uns beschämen würde. Das haben wir ihr nie verziehen.
Nur ein einziges Mal entstand in uns etwas wie Verständnis für diese eigentümliche, uns fremde Frau. An jenem Tag, als der Panzer kam und wir erregt ans Fenster stürzten, saß sie mit Schüttelfrost auf dem Stuhl vor dem Lehrertisch. Sie wirkte wie gelähmt. Wir umstanden sie und versuchten, ihr zu helfen. Sie war nicht ansprechbar. Wir hatten Angst, und zwei Mädchen weinten hysterisch. Nach ein paar Minuten beruhigte sie sich. Sie schwitzte und wirkte erschöpft. Wir boten ihr an, sie nach Hause zu bringen, doch sie war beunruhigt und wollte die Klasse an diesem Tag nicht ohne Lehrer lassen. Erst als eine Vertretung kam, ließ sie sich von zwei Schülern nach Hause bringen. Später hörte ich, sie sei im Krieg verschüttet gewesen. Andere sagten, sie habe die Bombardierung Dresdens erlebt, bei der ihre Familie verbrannte. Sie selbst sprach nicht darüber. Wir waren einige Tage befangen und zuvorkommend. Doch bald war es vergessen, und wir rächten uns – ausgeliefert der herrischen, unentrinnbaren Autorität unserer Lehrer – für alle uns
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