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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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mit ihrer Mutter zu den Brüdern nach Niedersachsen. Ich war erleichtert, als ich es hörte, und fast mit Stolz erzählte ich meinem Vater, daß Katharina die Republik verraten habe.
    In jenem Sommer kauften mir meine Eltern eine rotlederne Aktentasche. Ich wollte nicht mit einem Ranzen auf dem Rücken in der Oberschule der Kreisstadt erscheinen.
    Und jetzt saß ich in einem Zimmer des einzigen Hotels in G. und trank Bier. Und auf den abgetretenen, ausgefaserten Läufer vor dem Sessel goß ich einen Schluck des viel zu kalten, gelblichen Getränks. Eine Libation für ein Mädchen, das ich so rückhaltlos geliebt hatte, wie ich nie wieder einen Menschen sollte lieben können.
    Ein Jahr nach Katharinas Wegzug verließen auch meine Eltern mit mir und meiner Schwester die Stadt. Die tägliche Eisenbahnfahrt zur Kreisstadt war für mich zu anstrengend geworden, und zudem hatte Vater ein günstiges Angebot einer Maschinenfabrik in Magdeburg erhalten.
    Erst zwei Jahre später erfuhr ich von meiner Mutter, daß es für unseren überraschenden Umzug noch einen anderen Grund gegeben hatte. Onkel Gerhard, der Cousin meines Vaters, der gleichfalls in G. wohnte und uns häufig besuchte, war einen Monat vor unserem Umzug verhaftet worden. Im Dezember, wir wohnten bereits vier Monate in Magdeburg, wurde er zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. In der Gerichtsverhandlung mußte Vater als Zeuge auftreten.
    Onkel Gerhard war sehr viel älter als Vater. Er lebte allein in einer mit altem Hausrat und Möbeln überfüllten Wohnung. Seine Frau starb bald nach dem Krieg. Es hieß, sie habe Selbstmord begangen. Mutter sagte mir nur, sie sei tragischgeendet, und wenn ich weiter fragte, so erwiderte sie, daß damals Krieg gewesen und viel Schlimmes passiert sei.
    Onkel Gerhard war Rentner. Am Vormittag arbeitete er auf der Post. Er saß hinter einem Schalter und verkaufte Briefmarken und Zeitschriften. Bevor ich in die Schule ging, besuchte ich ihn fast jeden Nachmittag. Wir spielten Karten, und er sang mit mir alte Küchenlieder, wobei er uns auf einem Schifferklavier begleitete. Er kannte viele Scherzfragen und liebte es, mich zu necken. Wenn er mit dem Finger auf mich zeigte und kichernd einen Spottvers sang, war ich den Tränen nahe. Besonders fürchterlich empfand ich als Fünf- oder Sechsjährige die Drohung, eine alte Jungfer zu werden, was Onkel Gerhard immer wieder amüsierte. Da steht sie nun und hat kein Mann und ärgert sich zu Tode, ein andermal paß besser auf und mach es nach der Mode. Der Onkel gab mir Süßigkeiten, und ich beruhigte mich schnell. Später ging ich seltener zu ihm, aber unser Verhältnis blieb immer herzlich. Als ich zwölf Jahre alt wurde, übergab er mir sein Testament, das mich zum alleinigen Erben einsetzte.
    Er war für mich wie ein Großvater, und ich glaube, auch er betrachtete mich als sein Ziehkind oder Enkel. Zu meinen Geburtstagen schenkte er mir stets einen Geldschein, worüber meine Eltern sich nicht gerade freuten und mit ihm zankten, was unser Einverständnis nur vertiefte. Als er verurteilt wurde, war er zweiundsiebzig Jahre alt. Er hatte den Nazis geholfen, die Mitglieder der sozialdemokratischen und kommunistischen Partei in G. ausfindig zu machen, obgleich er selbst seit seinem siebzehnten Lebensjahr Sozialdemokrat gewesen war. Warum er es getan hatte, konnte auch bei der Gerichtsverhandlung nicht geklärt werden.
    Das Gericht sprach von einer Mitschuld an der Ermordung von vier Menschen. Mein Vater, dem der Onkel sechs Jahre nach Kriegsende davon erzählt hatte, erklärte bei der Verhandlung, er habe Onkel Gerhard nicht angezeigt, da ersein Cousin sei und überdies ein alter Mann. Der Richter sprach meinem Vater eine Mißbilligung aus.
    Ich weiß nicht, was meinen Onkel zu einem solchen Verrat bewogen hat. Er war ein heiterer, gütiger Mann, der zu Tränen neigte, und ich glaube, daß ihn die Nazis schnell einschüchtern konnten und er aus Furcht die Genossen verriet.
    Damals brach für mich eine Welt zusammen. Mein Entsetzen über die faschistischen Schrecken, meine Tränen beim Lesen des Tagebuches der Jüdin Anne Frank erschienen mir nun verlogen und geheuchelt. Ich meinte, das Recht verloren zu haben, mich über die Greuel zu empören oder mitleidig zu sein. Anfangs hatte ich das Bedürfnis, mich zu säubern, mich öffentlich schuldig zu sprechen. In meinen Schulaufsätzen schrieb ich, daß ich die Nichte eines Naziverbrechers sei und die Opfer nicht noch durch mein Mitgefühl

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