Der fremde Freund - Drachenblut
nasse, schmutzige Grau des Asphalts.
11
Am Tag nach Weihnachten sagte ich Mutter, daß ich fotografieren wolle und erst am Abend zurück sein würde. Mutter fragte, was ich denn noch zu fotografieren habe, ich hätte doch schon die ganze Gegend auf meinen Bildern, und ich erwiderte, daß sich Landschaft immerzu verändere. Ich merkte, sie war betroffen. Wahrscheinlich ahnte sie, daß ich mich zu Hause langweilte und einfach einen Grund brauchte, wegzukommen. Sie ahnte es, und sicher ahnte sie auch, daß ich das spürte. So war ich dankbar, daß sie nicht weiter darüber sprach, sondern mich fahren ließ. Sie gab mir Kaffee und belegte Brote mit, obwohl ich sie gebeten hatte, mir nichts einzupacken.
Ich langweilte mich, seitdem ich da war. Heiligabend kam ich erst spät an. Sie hatten schon alles vorbereitet, und nach den üblichen, nicht böse gemeinten Vorwürfen gingen wir ins Weihnachtszimmer. Ich lobte den Baum, weil ich wußte, daß Vater den ganzen Tag an ihm gebastelt hatte, und Vater freute sich. Wir gaben uns die Geschenke, und für einen Moment tat es mir leid, so einfallslos eingekauft zu haben. Aber sie freuten sich beide oder taten doch so. Es war alles teuer und selten, und das war wenigstens etwas.
Später saßen wir wie üblich vor dem Fernseher. Mutter wollte mit mir reden, und wir störten Vater. Wir tranken Wein zur Feier des Tages, wie Mutter sagte. Zu Hause trinken wir jeden Abend Wein zur Feier des Tages. Irgendwann weinte Mutter, aber ich wußte nicht warum, und wahrscheinlich wußte sie es auch nicht genau. Man braucht keinen Grund, wenn man nicht weint, warum soll man da einen besonderen Grund haben, wenn man mal weint.
Als nur noch Kinderchöre und Streichquartette im Fernsehenwaren, schaltete Vater das Gerät ab. Sie wollten dann wissen, wie es mir geht, und ich bemühte mich, ihnen etwas zu erzählen, von dem ich annahm, es würde sie interessieren oder wenigstens freuen.
Ich wollte nicht wieder als erste ins Bett gehen, weil sie das kränken würde. Also blieb ich und versuchte, mich wach zu halten.
Spät am Abend rief meine Schwester an. Sie hatte versprochen, gleichfalls Heiligabend zu Hause zu sein. Vor zwei Tagen hatte sie Mutter angerufen und ihr gesagt, sie käme erst am Weihnachtstag.
Am Telefon war sie sehr munter. Ich glaube, sie war angetrunken. Sie wünschte uns alles Gute, und wir gingen nacheinander an den Apparat, um ihr das auch zu wünschen. Als ich mit ihr sprach, kicherte sie und meinte, daß ich mich morgen sehr wundern würde. Ich erwiderte, daß ich mich freuen würde, sie zu sehen. Das letzte Mal hatten wir uns vergangene Weihnachten bei den Eltern getroffen. Sie sagte noch, ich möge ihr versprechen, nicht auf sie böse zu sein. Als ich von ihr wissen wollte, was sie meinte, legte sie den Hörer auf.
Wir saßen dann noch eine Weile im Zimmer. Mutter erzählte, und Vater fragte immerzu, ob wir nicht noch etwas essen wollten. Später versuchte er nochmals, etwas Interessantes im Fernsehen einzustellen. Danach fragte er, ob wir nicht etwas zusammen spielen sollten. Mutter und ich hatten aber keine Lust. Wir gingen ins Bett.
Zum Mittagessen am nächsten Tag kam Irene, meine Schwester, zusammen mit Hinner. Hinner arbeitet als Chirurg hier am Bezirkskrankenhaus. Ich wußte nicht, daß er vorbeikommen würde, und Mutter tat überrascht. Ich spürte aber, daß sie ihn eingeladen hatte. Seit unserer Scheidung konnte ich sie nicht von ihren Versuchen abbringen, uns plötzlich aufeinandertreffen zu lassen. Sie hoffte, wir würden wieder zusammenkommen. Sie war auf uns stolzgewesen, oder vielmehr auf unsere Ehe oder darauf, daß sich so gut über uns erzählen ließ. Wir waren damals beide ehrgeizig genug, um ausreichend erfolgreich zu sein. Es war sicher eine Ehe, wie sie Mutter für ihre Töchter erträumt hatte. In ihrem Inneren nahm sie unsere Scheidung einfach nicht zur Kenntnis. Sie akzeptierte sie nicht, weil sie nicht in ihren Traum paßte.
Noch weniger in ihren Traum paßte aber sicher dieser weihnachtliche Auftritt Irenes mit Hinner.
Sie hatte Irene eingeladen, und gewiß hatte sie auch Hinner eingeladen. Aber sie hatte es sich wohl ebensowenig wie jeder andere von uns vorstellen können, daß die beiden hier zusammen erscheinen.
Irene arbeitet als Lehrerin in Rostock. Sie ist verheiratet mit einem Ingenieur, den sie immer herablassend und gereizt behandelt. Ihr Mann wirkt blaß und nichtssagend, vor uns geht sie mit ihm um wie mit einem weichlichen,
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