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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Im übrigen sei es lediglich eine Kälteeinweisung. Im Frühjahr würde der Mann entlassen werden, seine Wohnung behielte er ohnehin.
    Dann wollte er Michael sprechen, und ich gab ihm den Hörer. Er forderte Michael auf, seinen Vater sofort aus dem Heim zu holen und bei sich aufzunehmen. Michael machte Einwände, aber er war unentschlossen. Schließlich sagte er zu. Er würde seinen Vater in der eigenen Wohnung aufnehmen oder täglich zu ihm gehen, um ihn zu versorgen. Michael und mein Kollege verabredeten einen Termin.
    Nach dem Gespräch wirkte Michael erleichtert. Ich hoffte, er würde seinen Entschluß nicht bereuen. Ich weiß nicht, ob ich meine Mutter oder meinen Vater bei mir aufnehmenwürde. Es wäre anstrengend für mich und, da ich oft Nachtbereitschaft habe, kompliziert.
    Nachdem er gegangen war, rief ich meine Eltern an. Als sich mein Vater am Telefon meldete, wußte ich nicht, was ich ihm sagen sollte. Ich rief ihn nur an, weil mich Michaels Anhänglichkeit an seinen Vater verwirrt hatte, doch ich konnte meinem Vater ja nicht sagen, daß ich ihn nur deshalb anrufe, weil andere Leute ihre Eltern lieben.
    Ich sagte, daß ich mich nur nach ihm erkundigen wollte. Es ging ihm gut, er sagte das jedenfalls. Es gab bei ihm nichts Neues, es gab bei mir nichts Neues. Wir legten die Telefonhörer bald auf.
    Mitte Dezember wurde es kalt und begann zu schneien. Der Schnee blieb nicht liegen, die Straßen waren dreckig und glitschig. Tagsüber wurde es nicht mehr richtig hell. Der Himmel war wie angegraute Watte, mein Zimmer ständig zu warm. Es half wenig, die Heizkörper abzudrehen. Ein günstiges Klima für Kakerlaken. Wenn ich unter die Dusche ging, musterte ich sorgfältig alle Ecken und möglichen Verstecke. Vor drei Jahren waren in unserem Haus Kakerlaken gewesen. Sie hatten sich mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit über alle Stockwerke verbreitet. Sie wurden mit Gas getötet. Seitdem habe ich keine mehr gesehen, fürchte aber, daß sie irgendwann wieder hervorkriechen.
    Von Mutter kam ein Päckchen mit einer selbstgebackenen Stolle. Sie schickt sie mir jedes Jahr um diese Zeit. Auf dem beigelegten Brief, er war durchfettet, und die Tinte war verlaufen, schrieb sie, daß sie sich auf meinen Besuch freue und daß auch meine Schwester zu Weihnachten kommen werde. Vater habe wieder Schwierigkeiten mit der Lunge und sie mit dem Bein, und was ich mir denn wünschen würde. Sie hatte es auf eine Schulheftseite geschrieben. Sie schrieb stets auf die herausgerissenen Seiten eines Schulheftes. Sie hatte es sich angewöhnt, als meine Schwesterund ich zur Schule gingen, aber das war vor dreißig Jahren. Weshalb kaufte sie immer noch Schulhefte, aus denen sie dann die Seiten für ihre kurzen, unbeholfenen Briefe und für ihre Notizen herausriß?
    Am Sonnabend vor Weihnachten weckte mich Vogelgezwitscher. Ich wurde nur schwer wach. Es dauerte lange, bis ich begriff, daß es Vögel waren, die den Krach machten. Es kam mir unwirklich vor. In der Umgebung unseres Hauses leben keine Vögel. Ich lag im Bett, ohne die Augen zu öffnen, und dachte träge darüber nach. Als mir endlich einfiel, daß es Frau Rupprechts Vögel sein mußten, war ich erleichtert. Im gleichen Moment aber dachte ich daran, daß ich sie noch nie so laut und deutlich vernommen hatte. Vor Schreck war ich hellwach. Ich wußte nicht warum, doch ich hatte das Gefühl, daß etwas geschehen war. Ich stand schnell auf und duschte mich. Ich zog mich an und ging zu Frau Rupprecht hinüber. Ich klingelte. Nur die Vögel waren zu hören. Ich klingelte immer wieder und klopfte gegen die Tür. Ich hörte, wie sich hinter mir Türen öffneten. Eine Frau fragte, was denn passiert sei. Ich antwortete irgend etwas. Dann ging ich in meine Wohnung zurück. Ich versuchte, eine innere Unruhe zu bekämpfen. Das Vogelgezwitscher hielt an. Mir schien, daß es lauter wurde. Irgend etwas ist geschehen, dieser Gedanke wiederholte sich ermüdend in meinem Kopf, wie ein Mühlrad, das ich nicht anhalten konnte. Irgendwas geschah, kreiste es in meinem Gehirn, während ich das Wasser für den Kaffee aufsetzte.
    Ich überlegte, was passiert sein könnte, und sagte mir dann, daß ich verrückt sei. Die Vögel werden immer so laut gezwitschert haben, ich hatte nur nicht auf sie geachtet. Einmal aufmerksam geworden, hatte ich mich nun zu sehr auf sie konzentriert. Das war alles.
    Ich zündete mir eine Zigarette an und setzte mich. Ich drückte die Zigarette wieder aus, ging in die

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