Der fremde Freund - Drachenblut
holte der Hausmeister den Schlüssel zurück. Über die Beerdigung von Frau Rupprecht konnte er nichts sagen. Verwandte hatten sich nicht gemeldet. Er wollte ihre Möbel und Habseligkeiten im Keller unterstellen, bis er etwas erfahren würde.
Er fragte mich, ob ich die Vögel oder zumindest ein paar von ihnen vorerst zu mir nehmen könne. Ich sagte, daß ich verreise, und er erwiderte verbittert, er verstehe schon. Keiner wolle die Totenvögel haben. Ich erkundigte mich, wo die Leiche von Frau Rupprecht jetzt sei. Er war noch immer verbittert.
Ich weiß nicht, sagte er. Und mit einem leichten Grinsen fügte er hinzu: Wo wird sie schon sein.
Bis in den späten Abend hörte ich ihn nebenan räumen. Ich stellte den Fernseher lauter. Ich war erleichtert, daß der Hausmeister den Schlüssel abgeholt hatte. Es war mir unangenehm, abends in die leere Wohnung von Frau Rupprecht zu gehen, um ihre Vögel zu versorgen. Die Totenvögel, wie er sagte. Ich fand es unangemessen und aufdringlich, die Wohnung der Toten zu betreten. Es waren ihre Vögel, sie hätte sie mit sich nehmen sollen.
Zwei Tage vor Heiligabend machte ich Weihnachtseinkäufe. In einem Feinkostladen kaufte ich wahllos Schnapsflaschen, Gläser mit Gewürzen, buntbedruckte Büchsen, in denen Fleisch oder Edelgemüse war. Als die Verkäuferin einen Berg vor mir aufgebaut hatte, fragte sie mich, ob das alles wäre. Ich hoffe es, sagte ich und bezahlte. Ich hoffte, numerisch aller gedacht zu haben, an die zu denken mich das bevorstehende Weihnachten nötigte. Frohes Fest, sagte die Verkäuferin.
Zu Hause würde ich Päckchen packen und mein Adreßbuch durchgehen, das mit kleinen Bleistifthäkchen hinter den Namen übersät war. Häkchen von all den vergangenen Festen, für die ich das Adreßbuch durchgehen und mein Hirn mit der Unsinnigkeit martern mußte, sogenannte persönliche Geschenke auszudenken. Heute suche ich nicht mehr nach persönlichen Präsenten. Irgendeins tuts auch. Ich weiß außerdem nicht, was ein persönliches Geschenk ist. Ich glaube, wenn ich wirklich jemandem ein persönliches Geschenk geben würde, er müßte erschrecken. Ich weiß nicht, wie ein persönliches Geschenk für mich aussehen könnte, aber ich bin überzeugt, wenn es wirklich persönlich wäre, ich würde anfangen zu heulen. Zumindest wüßte ich dann, was ich für eine Person bin. Ich weiß es bis heute nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich daran interessiert bin, es zu erfahren. Wahrscheinlich habe ich noch dreißig Jahre zu leben, das sagt jedenfalls die Statistik. Und ich bin nicht sicher, ob es einfacher würde, diese Jahre zu überstehen, wenn ich wüßte, wer ich eigentlich bin. Ich lebe mit mir zusammen, ohne viele Fragen zu stellen. Wie jeder normale Mensch habe ich gelegentlich Angst, irgendwann einmal verrückt zu werden. Wenn man es ein-, zweimal in seinem Bekanntenkreis erlebt hat, weiß man, wie schnell es geht und daß in diesem Punkt keiner sehr sicher sein kann. Und ich bin der festen Überzeugung, es ist der sicherste Weg, verrückt zu werden, wenn man erst einmal anfängt zuergründen, wer man eigentlich ist, mit wem man da zusammenlebt. Die Psychiatrie hat in unserem Jahrhundert einige Heilerfolge vorzuweisen, allerdings hat sie sich auch mit Patienten in einem vorher ungekannten Maße eingedeckt. Ich habe keine besondere Abneigung gegen Psychiatrie oder Neuropsychologie. Ich habe allerdings auch keine Vorliebe dafür. Ich habe bemerkt, daß man bei allen alles finden kann, wenn man erst anfängt, danach zu suchen.
Frohes Fest, sagte die Verkäuferin. Als ich zurückgrüßen wollte, war sie bereits mit dem nächsten Kunden beschäftigt. Auf ihrem Gesicht die unveränderte Grimasse leicht angestrengter Freundlichkeit, türmte sie einen neuen Berg von Konserven und Flaschen auf. Die persönlichen Aufmerksamkeiten des nächsten Kunden.
Heiligabend ging ich mit Henry Mittagessen. Weihnachten würde er bei seiner Familie verbringen. Wir sprachen nicht darüber. Er wollte nicht schon jetzt an die Auftritte mit seiner Frau denken. Silvester wollten wir zusammen in Magdeburg verbringen, bei meinen Eltern.
Nach dem Essen fuhr ich los. Henry brachte mich zum Wagen. Als wir uns verabschiedeten, drückte er mir ein kleines Päckchen in die Hand. Bitte, bitte nicht, dachte ich und lächelte ihn an.
Den Hut ins Genick geschoben, sah er mir nach. Ich betrachtete ihn im Rückspiegel, bis er hinter den Bäumen, anderen Autos, Passanten verschwunden war, versunken ins
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