Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
Vom Netzwerk:
Küche, schaltetedie Elektroplatte ab und verließ die Wohnung. Mit dem Fahrstuhl fuhr ich ins Erdgeschoß. Dort klopfte ich an die Tür des Hausmeisters. Ich bat ihn, mit mir nach oben zu kommen und die Tür von Frau Rupprecht zu öffnen. Ich versuchte, ihm meine Gründe für diesen Wunsch zu erläutern, und er sagte mürrisch, daß er auf ein bloßes Gefühl hin nicht in eine Wohnung einbrechen könne. Er hatte nur eine Hose an. Die Hosenträger spannten sich über die mit grauen Haaren bewachsene Brust. Die nackten Füße steckten in Filzlatschen.
    Da ich nicht ging – ich wußte, daß ich meine Unruhe nicht anders besänftigen konnte –, entschloß er sich schließlich, mit mir zu kommen. Er ging in seine Wohnung. Als er wiederkam, hatte er einen Kittel übergezogen und hielt einen Schlüsselbund in der Hand. Im Fahrstuhl brummte er, daß ich die Verantwortung übernehmen müsse. Er sagte, daß er dafür nicht bezahlt werde. Ich versprach, ihm fünf Mark zu geben. Er nickte zufrieden und meinte, daß es so nicht gemeint sei.
    Im kleinen Flur von Frau Rupprechts Wohnung roch es nach Vogelfutter und Sand. Der Hausmeister sagte, daß so etwas nicht erlaubt sein dürfte. Er meinte wohl den Gestank.
    Als wir die Zimmertür öffneten, saß Frau Rupprecht im Sessel und sah uns an. Die winzigen Augenflecke, kleine schwarze Spiegel in einem Gesträuch von Falten, waren auf uns gerichtet. Der Hausmeister erklärte ihr, wieso wir hereingekommen waren. Dann unterbrach er sich und sagte tonlos: Scheiße. Frau Rupprecht war tot. Der Geruch im Zimmer war schwer und süßlich. Er strengte mich an.
    Die Vögel pfiffen aufgeregt und flatterten in ihren Käfigen. Einige saßen wie krank auf der Stange oder dem sandbestreuten Boden. Der Hausmeister ging zur Balkontür und öffnete sie. Ich versuchte, Frau Rupprechts Augen zu schließen. Es gelang mir nicht. Die Lider waren in den Faltender Augenhöhlen verschwunden. Sie fühlte sich kalt an. Als ich es nochmals versuchen wollte, sagte der Hausmeister, ich solle nichts verändern.
    Ich wollte den Vögeln frisches Wasser geben und Futter, aber auch das ließ er nicht zu. Ich mußte Frau Rupprechts Wohnung mit ihm verlassen. Er verschloß sie sorgfältig, mich mißtrauisch musternd. Er sagte, er würde alles Notwendige veranlassen. Er sei da erfahren. Wenn ich etwas von Bekannten wüßte, könnte ich diese benachrichtigen. Ich antwortete ihm nicht. Er holte sich eine einzelne Zigarette aus der Kitteltasche. Sie war gekrümmt und flammte beim Entzünden auf, da der Tabak herausgekrümelt war.
    Mittags kamen Polizei und ein Arzt. Jedenfalls schloß ich das aus der Art, wie der Hausmeister auf dem Flur mit ihnen redete. Ich ging nicht hinaus. Ich erwartete, daß man mich rufen würde. Es meldete sich keiner.
    Zwei Stunden später erschienen die Träger mit der Bahre. Auch das schloß ich aus den Gesprächen, die ich hörte. Als sie die Leiche aus der Wohnung trugen, stießen sie gegen meine Tür. Im ersten Augenblick wollte ich öffnen. Ich glaubte, man brauche meine Hilfe. Doch ich bewegte mich nicht.
    Die Tür von meinem Zimmer zu dem kleinen Flur mit den eingebauten Schränken stand offen. Ich hörte jedes Wort, jeden Ton, jedes Geräusch. Letzte Mitteilungen von Frau Rupprecht an ihre Nachbarn.
    Eine Männerstimme, einer der Bahrenträger vermutlich, fluchte laut und brüllte in den Flur: Die Frau ist seit drei Tagen tot. In diesem Haus verreckt man, das kümmert keinen.
    Am Abend klingelte der Hausmeister bei mir. Er fragte, ob ich vorübergehend die Vögel in der Nachbarwohnung versorgen könnte. Er gab mir den Schlüssel. Ich ging in die Wohnung, wusch die Näpfe aus und füllte sie mit frischem Wasser und Futter. Es waren vierzehn Käfige mit dreiundzwanzigVögeln, die ringsum an den Wänden hingen. Zwei Sittiche waren tot. Ich wickelte sie in eine Zeitung, die auf der Anrichte lag.
    Es dauerte fast eine Stunde, bis ich damit fertig war.
    Ich fühlte mich nicht wohl dabei. Ich hatte das Gefühl, Frau Rupprecht würde plötzlich erscheinen, und ich müßte meine Anwesenheit in ihrer Wohnung erklären. Ich bedauerte, daß es mir nicht gelungen war, ihr die Augen zu schließen. Tote wirken auf mich weniger aggressiv, wenn ihre Augen geschlossen sind.
    Als ich mit allem fertig war, nahm ich das Zeitungspaket mit den toten Vögeln. Ich warf es in den Müllschlucker neben dem Fahrstuhl. Dann wusch ich mir die Hände in meiner Wohnung. Ich bürstete sie gründlich.
    Zwei Tage später

Weitere Kostenlose Bücher