Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
genannte Sorgentelefon. Kinder und Jugendliche konnten dort ihre Probleme schildern, sie konnten anonym bleiben, aber auch unter Nennung ihres Namens gezielt um Hilfe bitten. «
»Und diese Sabrina hat auch …?«
»Ich weiß gar nicht, wie ich darauf kam, sie anzurufen. Sie gehörte ja nur ganz kurz zu uns. Aber ich stolperte plötzlich über ihren Namen und ihre Nummer in meinem Adressbuch, und da dachte ich, warum frage ich nicht auch sie.« Agneta machte eine kurze Pause.
»Und das war ein Volltreffer«, sagte sie.
Claras Herz schlug schnell und so hart und laut, dass sie meinte, man müsste es sogar durch das Telefon hören können. Auf der Terrasse krähte Marie, dudelte der Zauberwürfel
seine Melodien. Nicht eine Wolke hatte sich vor die strahlende Sonne geschoben, und doch kam es Clara vor, als verdunkle sich der heiße Tag.
»Ich habe Sabrina in einem absolut desolaten Zustand angetroffen«, fuhr Agneta fort, »sie war ganz überwältigt, meine Stimme zu hören, und im nächsten Moment fing sie dann auch schon an zu weinen. Sie hat mir einiges erzählt … Ihr Mann hat die Scheidung eingereicht und ist auch schon daheim ausgezogen, weil Sabrina offenbar ein längeres Verhältnis mit einem anderen Mann hatte. Der hat sie aber auch verlassen. Sie ist total allein und völlig am Boden zerstört.«
»Aber …«
»Warte. Die Probleme mit den Männern sind nicht der einzige Grund für ihre angeschlagenen Nerven. Sabrina bekommt seit Anfang Mai Drohbriefe – und zwar genau in der Art und in dem Stil, wie auch unsere waren.«
»Oh«, sagte Clara. »War sie bei der Polizei?«
»Zweimal. Man hat sie wohl auch ernst genommen, aber ihr letztlich im Grunde nur sagen können, dass man nichts für sie tun könne. Es gibt keine Möglichkeit zu ermitteln, woher die Briefe stammen.«
»Und … und für wie gefährlich hält man bei der Polizei den Verfasser?«, fragte Clara beklommen.
Agnetas Stimme klang gleich etwas fröhlicher. »Das ist die wirklich gute Nachricht. Man hält ihn eigentlich nicht für gefährlich. Man meint, es könnte sogar ein Jugendlicher sein, der sich einen Spaß daraus macht, jemanden richtig zu erschrecken, und der die Tragweite dessen, was er da tut, nicht überblickt. Denn es ist ja nichts von all dem, was in den Briefen angedroht wird, auch nur andeutungsweise passiert.«
»Wann hat sie den letzten Brief bekommen?«
»Vor etwas mehr als drei Wochen. Also ähnlich wie bei uns.«
Clara mühte sich ab, all die Informationen in ihrem Kopf in eine Ordnung zu bringen. Sie war so erschrocken, dass sie Schwierigkeiten hatte, klar und logisch zu denken.
»Aber«, sagte sie schließlich, »als die Polizei Sabrina und ihrem Mann versicherte – oder es zumindest für wahrscheinlich erklärte –, dass der Briefeschreiber harmlos sei, wusste sie natürlich nichts von unseren Briefen. Da sah es so aus, als sei Sabrina ein Einzelfall.«
»Ja. Aber ändert das etwas?«
»Ich weiß nicht«, sagte Clara, »aber es gibt doch der Angelegenheit eine andere Dimension, findest du nicht? Sabrina Baldini ist nicht irgendein zufällig ausgewähltes Opfer. So wenig wie du oder ich. Wir haben alle drei einen gemeinsamen Nenner: unsere Arbeit beim Jugendamt. Was doch eigentlich bedeutet, dass der oder die Täter in irgendeiner Weise auch aus diesem Umfeld stammen müssen.«
»Aber Sabrina hat dort nie gearbeitet«, meinte Agneta, »ihre Arbeit ging lediglich in die gleiche Richtung wie unsere. «
»Das reicht doch schon. Da ist doch ein klarer Zusammenhang. Mit Kinderruf hatten wir schließlich auch zu tun.«
»Ich werde noch einmal versuchen, alles, was damals war, zu rekonstruieren«, sagte Agneta. Sie klang verzagt. »Das wird nicht einfach sein. Sabrina bei Kinderruf . Ich in der Abteilung Sozialdienst. Du bei der Erziehungshilfe. Aber …«
»Da ging vieles Hand in Hand«, sagte Clara. Sie lauschte nach draußen. Marie krähte noch immer vergnügt vor sich hin. Sie würde sie von jetzt an keine Minute mehr allein im Garten lassen. Die alte Angst war wieder da.
»Ich denke auch noch mal ganz genau nach«, sagte sie, »vielleicht fällt mir ein Fall ein, an dem jemand beteiligt war, dem ich derartige Briefe zutrauen würde. Aber meinst du
nicht auch, dass jetzt doch der Zeitpunkt gekommen ist, zur Polizei zu gehen?«
»Lass mich das noch einmal überschlafen«, bat Agneta. Clara vermutete, dass sie in Wahrheit die Angelegenheit noch einmal mit ihrem Mann besprechen wollte. »Wir müssen auch
Weitere Kostenlose Bücher