Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
deshalb wirst du hierbleiben. So lange, bis ich mit Rebecca fertig bin!«
In diesem Moment erst hatte sie die Wäscheleine in seinen Händen gesehen. Und begriffen, dass er sie auch fesseln würde. Und sich nicht im Mindesten gewehrt, als er damit anfing. Wohl auch deshalb, weil sie genau wusste, dass es überaus gefährlich wäre, ihn zu reizen.
Er hatte sie auf einen Stuhl gedrückt, ihre Arme hinter die Lehne gezogen und sie dort zusammengebunden.
»Tut mir Leid«, sagte er etwas sanfter, während er vor ihr kniete und ihre Füße an die Stuhlbeine fesselte, »aber du hättest ja abreisen können. Niemand hat dir gesagt, dass du mit ihr Freundschaft schließen sollst!«
Als er das Zimmer verließ, hatte sie voller Panik gefragt: »Wohin gehst du?«
Aber er hatte sie ignoriert, und sie hatte seine Schritte auf der Treppe verklingen hören. Sie wollte hinter ihm herrufen, wollte ihn dazu bringen, dass er bei ihr blieb, dass er mit ihr redete, aber sie schluckte ihren Schrei im letzten Moment hinunter. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Vielleicht war es besser, allein zurückzubleiben. Vielleicht fand sich eine Möglichkeit für sie, zu flüchten.
Schon recht bald allerdings hatte sie gemerkt, dass er sie auf eine Art gefesselt hatte, die es ihr unmöglich machte, sich rasch zu befreien. Er hatte die Wäscheleine so eng zusammengezogen und vielfach verknotet, dass ihr nicht der geringste Bewegungsspielraum blieb und sie daher keine Möglichkeit sah, ihre Glieder aus den Schlingen zu ziehen. Sie wusste, dass sich Wäscheleinen mit der Zeit lockerten, dass sie sich dehnten. Falls Marius nicht alle paar Stunden aufkreuzen und die Haltbarkeit seiner Fesselung überprüfen würde, müsste sich irgendwann eine Möglichkeit für sie finden, sich herauszuwinden. Aber das konnte zwölf Stunden oder mehr dauern. Und so lange würde er sie wahrscheinlich kaum allein lassen. Sie brauchte zumindest etwas zu trinken
zwischendurch oder musste auf die Toilette. Oder wären ihm derlei Bedürfnisse seiner Opfer völlig gleichgültig?
Sie drängte die aufkeimende Panik zurück. Nur nicht die Nerven verlieren. Inmitten dieses unbegreiflichen Albtraums wäre dies das Schlimmste, was ihr passieren könnte.
Den Rest der Nacht hatte sie hellwach verbracht. Anspannung und Aufregung verhinderten, dass sie einschlief, aber auch die wachsenden Schmerzen in ihren Gelenken. Marius hatte dafür gesorgt, dass ihre Durchblutung nicht mehr richtig funktionierte. Ihre Füße wurden immer kälter, in den frühen Morgenstunden begannen die Zehen heftig zu kribbeln. Aus ihren nach hinten verdrehten Armen strahlten die Schmerzen in Hals und Schultern aus. Immer wieder musste sie gegen die Panik kämpfen, die ständig auf der Lauer lag und zahlreiche Versuche unternahm, sie anzufallen. Inga dachte an absterbende Glieder und an unerträgliche Schmerzen, und dann merkte sie, wie ihr sofort der Schweiß am ganzen Körper ausbrach und ihr Atem flach wurde. Sie musste sich mit aller Kraft dazu zwingen, wieder ruhig und tief durchzuatmen.
Er lässt dich nicht einfach verrecken. Er hat es auf Rebecca abgesehen, nicht auf dich. Gegen dich hat er im Grunde nichts. Er will nicht, dass du leidest. Und das ist deine Chance. Du musst ruhig bleiben, um keinesfalls den richtigen Moment zu verpassen. Den Moment, da du Hilfe holen kannst.
Draußen dämmerte der nächste heiße, wolkenlose, von Lavendel – und Pinienduft geschwängerte Hochsommertag in der langen Kette herrlicher Tage heran. Inga, die die wachsenden Schmerzen in ihrem verkrampften Körper immer schlechter verdrängen konnte, versuchte, sich Bilder und Eindrücke der vergangenen Woche ins Gedächtnis zu rufen und sich damit abzulenken. Sie sah sich und Rebecca am
Frühstückstisch auf der Veranda, sie roch den Kaffee und spürte den Geschmack des frisch aufgebackenen Baguettes, das mit Butter und Mirabellenmarmelade bestrichen war. Der Morgenwind umfächelte ihr Gesicht. Er spielte in Rebeccas langen, dunklen Haaren. Dieses traurige Gesicht, der abwesende Ausdruck, der verriet, dass Rebecca ständig in ihre Vergangenheit lauschte …
Nein, sie durfte jetzt nicht an Rebecca denken. Inga kehrte jäh in die Wirklichkeit zurück. Rebecca, die, vielleicht noch viel schlimmer und brutaler zusammengeschnürt als sie selbst, oben in ihrem Zimmer lag, ausgeliefert an einen Geisteskranken, der einen obskuren Racheplan verfolgte. Eine Rache, von der niemand, außer Marius selbst, wusste, worauf sie
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