Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
sich eigentlich gründete. Der niemand deswegen auch etwas entgegenhalten konnte. Die voller Willkür und von einem erschreckend tiefen Hass geprägt war.
Oder wusste Rebecca doch etwas? Inga war bislang einfach davon ausgegangen, dass Rebeccas Verwirrung und Ahnungslosigkeit wegen Marius’ offenkundiger Abneigung gegen sie echt waren. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass sich Rebecca deswegen angestrengt den Kopf zerbrochen hatte, jedoch zu keinem Ergebnis gekommen war. Aber wie sicher konnte sie sein? Vielleicht gab es Untiefen in Rebeccas Leben, die diese sehr geschickt und überzeugend verbarg. Vielleicht wusste Rebecca ganz genau, worum es ging. Vielleicht war Rebecca gar nicht wegen des Todes ihres Mannes aus Deutschland verschwunden, vielleicht lief sie vor ganz anderen Dingen davon. Vor schwarzen Flecken in ihrer Vergangenheit, die es ihr hatten geraten scheinen lassen, so tief sie nur konnte unterzutauchen. Aber hätte sie dann nicht Marius erkennen müssen? Oder – falls er ihr zuvor nicht persönlich begegnet war – doch bei der Nennung seines Namens erschrecken müssen? Wäre es nicht unter diesen angenommenen
Umständen natürlich gewesen, wenn sie mit Erschrecken und Furcht auf Ingas Mitteilung, dass Marius Rachepläne gegen sie verfolgte, reagiert hätte? Ihre ratlose Verwunderung hatte sehr aufrichtig gewirkt. Auch hatte sie nichts unternommen, sich zu schützen. Sie hatte weder das Haus verbarrikadiert noch geplant, einen neuen, unbekannten Ort aufzusuchen. Sie hatte keinen Moment lang Angst gezeigt. Sie war melancholisch und gedankenversunken wie immer gewesen. Sie hatte Interesse gezeigt an der Beziehungsgeschichte zwischen Marius und ihr, Inga, und das war ungewöhnlich gewesen für eine derartig depressive Frau, aber trotz ihres Interesses hatte sie zu keinem Zeitpunkt nervös oder unsicher gewirkt. Zwischen den einzelnen Gesprächen war sie stets wieder in ihre eigene Welt abgeglitten. Wenn sie geschauspielert hatte, so hatte sie dies mit atemberaubender Geschicklichkeit getan.
Aber, so rief sich Inga wieder zur Ordnung, es hatte keinen Sinn, Rebecca zur Täterin zu machen, nur um die Angst vor Marius zu besiegen. Sie hätte sein Verhalten so gern verstanden, weil sie spürte, dass ihre Furcht sie nicht mehr so beherrschen würde, wenn sie erst begriff, was geschehen war. Aber ganz gleich, was Rebecca in der Vergangenheit verbrochen haben mochte, es machte nichts von Marius’ Verhalten besser. Nicht sein Verhalten auf dem Schiff, nicht das, was er in der vergangenen Nacht gezeigt hatte. Er war eine tickende Zeitbombe.
Ich bin nicht der Letzte!
Irgendwann waren sein Selbstwertgefühl und seine Selbstachtung von jemandem zerstört worden. So schwer und so nachhaltig, dass er sich davon nicht erholen konnte, dass er in einer offenkundig schweren Psychose lebte. Es musste nicht Rebecca gewesen sein, die ihn gebrochen hatte. Sie konnte, unwissentlich und ungewollt, zu irgendeinem Zeitpunkt, an
den sie sich nicht erinnerte, Salz in die Wunde gestreut haben. Inga war inzwischen überzeugt, dass etwas Derartiges ausreichen konnte, Marius fast um den Verstand zu bringen.
Es war nicht zu ergründen. Inga starrte aus dem Fenster. Die Sonne kletterte höher. Es mochte nach neun, vielleicht halb zehn am Vormittag sein. Von oben aus dem Haus war nicht ein einziger Laut zu hören. Seit Stunden schon nicht.
Was geschah dort im ersten Stock?
Es war heiß. Ingas Zunge klebte an ihrem ausgedörrten Gaumen. Die Füße kribbelten. Die Arme schmerzten.
Vielleicht war der Zug der Wäscheleine ein kleines bisschen lockerer geworden; Inga hoffte jedenfalls, dass sie sich dies nicht aus reinem Wunschdenken heraus einbildete. Wann immer sie die Kraft fand, trotz der höllischen Schmerzen ihre Armmuskeln anzuspannen, stemmte sie sich gegen ihre Fesseln. Noch war nicht daran zu denken, dass sie sich herauswinden konnte. Aber wenn ihr noch einige Stunden Zeit blieben …
Nicht aufgeben, redete sie sich gut zu, nicht aufgeben und bloß nicht durchdrehen!
Wenn sie nur einen Schluck Wasser bekäme!
In ein paar Stunden, das war ihr klar, würde es für sie nicht mehr in erster Linie darum gehen, ihre Fesseln loszuwerden. Bis dahin würde der Durst ihre schlimmste Bedrohung sein. Und selbst wenn sie sich befreien konnte, blieb es fraglich, ob ihre Füße sie noch trugen. Sie schienen langsam abzusterben. Wahrscheinlich konnte sie schon jetzt nicht mehr auf ihnen stehen.
Ihr schossen die Tränen in die Augen. Vor
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