Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
gut, sie derart um Atem ringen zu lassen. Es wirkte sich bestimmt nachteilig auf ihre Konzentration aus. Er musste sich darauf besinnen, dass sein Hauptanliegen darin bestand, sie zum Zuhören zu zwingen. Er durfte sich nicht ins eigene Fleisch schneiden. Er musste klug vorgehen. Er brauchte sie bei klarem Verstand.
»Ich werde dir den Knebel aus dem Mund nehmen«, sagte er, »aber solltest du einen Laut von dir geben oder gar schreien, kriegst du sofort wieder den Mund verschlossen. Ist das klar?«
Sie nickte.
Er riss grob das Klebeband von ihrem Gesicht. Sie tat keinen Mucks, aber vor Schmerz schossen ihr die Tränen in die Augen. Er zog das Taschentuch aus ihrem Mund. Sofort rang sie um Atem, hustete und keuchte. Sie tat so, als sei sie kurz vor dem Ersticken gewesen. Wenn sie meinte, sie könnte Mitleid in ihm erregen, dann hatte sie sich geirrt. Er konnte kalt sein wie eine Hundeschnauze. Genau wie sie.
»So«, sagte er. Er legte das Taschentuch auf den Frisiertisch
und warf das benutzte Klebeband in den Abfalleimer. »Du weißt jetzt, wie sich das anfühlt, nicht? Wenn du nicht parierst, mach ich’s beim nächsten Mal noch schlimmer für dich. Kapiert?«
Sie nickte wieder. Er hätte gewettet, dass sie gern nach Wasser gefragt hätte. Nach bald acht Stunden mit einem Taschentuch im Maul musste sie halb verrückt sein vor Durst. Aber sie wagte es nicht. Sie wagte es nicht, weil er ihr verboten hatte, einen Laut von sich zu geben.
Natürlich durfte sie nicht dehydrieren. Dann war ihre Konzentration erneut beim Teufel. Er würde ihr Wasser bringen. Aber nicht sofort. Sie sollte schon noch ein bisschen zappeln.
»Ich frage mich«, sagte er, »wie man so ein Mensch wird wie du. Ich meine, wir alle bilden uns aus entsprechend den Anlagen, die wir mitbekommen haben. Die genetischen Anlagen, aber auch die, die uns durch Erziehung und Umfeld sozusagen aufgenötigt werden. Und da würde ich immer gern wissen, was bei Menschen wie dir schief läuft. Woher nimmt jemand die Überheblichkeit zu glauben, er sei berufen, sich permanent in das Leben anderer Menschen einzumischen? Ihre Lebensweise zu beurteilen? Und einzugreifen, wenn er meint, mit dieser Lebensweise sei irgendetwas nicht in Ordnung? Und ebenso selbstherrlich nicht einzugreifen, auch wenn etwas tatsächlich ganz und gar nicht stimmt?«
Sie antwortete nicht. Ihm fiel ein, dass er ihr angedroht hatte, er werde sie wieder knebeln, wenn sie den Mund aufmachte.
»Du kannst reden«, sagte er, »aber nicht schreien oder etwas in der Art. Und bleib beim Thema, klar? Versuch nicht, mich abzulenken oder mich in irgendetwas zu verwickeln, worüber ich gar nicht sprechen möchte.«
Sie nickte.
»Ich …« Ihre Stimme klang verändert. Vermutlich deshalb,
weil ihr Mund so trocken war. »Ich weiß nicht genau, wovon Sie sprechen.«
Er lächelte. Das hatte er erwartet. Leute ihrer Art waren sehr groß darin, sich dumm zu stellen. Sie hatten nie eine Ahnung von irgendetwas und versuchten sich damit unschuldig zu machen. Wer nichts begreift, hat nichts zu verantworten. Leider kamen sie damit nur allzu oft durch.
»Okay«, sagte er, »okay. Ich helfe dir ein bisschen auf die Sprünge, ja? Sorgentelefon. Sagt dir das etwas?«
Er hatte das Thema gewechselt. Den Aufbau seiner Vorgehensweise verlassen. Er hatte mit ihrer Jugend beginnen wollen, hatte in langen Gesprächen – Verhören! – analysieren wollen, was in ihrer Kindheit sie zu dem verkorksten Menschen gemacht hatte, der sie heute war.
Er wischte sich über die Stirn. Das Sorgentelefon hätte noch gar nicht an der Reihe sein sollen. Aber es drängte. Es zerriss ihn fast.
Gut. Dann würde er sich später mit ihrer Kindheit beschäftigen, überlegte er. Mit ihrer zweifellos beschissenen Kindheit!
Ihre Augen blickten wachsam drein. Sie wollte keinen Fehler machen.
»Ja. Natürlich sagt mir das etwas. Aber ich weiß noch nicht, worauf Sie hinauswollen.«
Er lächelte wieder. Vielleicht kapierte sie es wirklich nicht. Leute wie sie waren auch ziemlich gut im Verdrängen. Sie schoben unangenehme Vorkommnisse und Begebenheiten ihres Lebens ganz weit weg, so weit, dass sie sie selbst irgendwann nicht mehr fanden. Und dann redeten sie sich ein, diese Dinge seien nie geschehen.
»Aha. Du weißt nicht, worauf ich hinauswill. Dann werde ich dir jetzt einmal etwas zeigen.«
Er hatte den Zettel immer aufbewahrt. Seit nunmehr dreizehn
Jahren trug er ihn mit sich herum. Tief in seinem Geldbeutel vergraben, hinter den
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