Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
beim Fußballspielen ganz unglücklich gestürzt sei.
»Wenn du das nicht sagst, kommt Frau Wiegand und nimmt dich uns weg. Sie denkt dann, dass sie den Beweis hat, dass wir dich nicht großziehen können. Dabei weißt du, dass Papa dich liebt, nicht wahr? Du hast ihn nur so schrecklich wütend gemacht, weil du das Geld weggenommen hast!«
Er hatte geweint und gezittert und ihm war übel gewesen vor Schmerzen, zu übel, um ein Wort hervorzubringen, sonst hätte er noch einmal beteuert, dass er das Geld nicht genommen hatte.
»Wenn sie dich erst mal hat«, hatte Mama gesagt, »dann gibt sie dich nie wieder an uns zurück. Weißt du, was mit dir passiert? Du kommst in ein Heim. Mit ganz vielen anderen Kindern und ganz strengen Erziehern. Man darf dort nie ein Wort sagen, und nachts wird man am Bett festgebunden, damit man nicht wegläuft. Es gibt wenig zu essen, manchmal tagelang gar nichts, und wenn man etwas angestellt hat, wird man in einen dunklen Keller gesperrt, in dem es von Ratten wimmelt. Manche Kinder haben sie dann dort sogar vergessen. Die sind von den Ratten bis auf die Knochen abgenagt worden!«
Er hatte gekotzt, und dem Arzt hatte er gesagt, er sei beim Fußballspielen unglücklich gestürzt. Das hatte er auch Frau Wiegand erklärt, die ihn wieder und wieder über den Unfall auszufragen versuchte. Sie glaubte die Geschichte mit dem Fußballspielen nicht, das merkte er. Aber je mehr sie fragte, um so konsequenter beharrte er auf seiner Version. Er wusste ja jetzt, was sie wollte. Ihn fortbringen in dieses Heim. Zum Glück hatte ihn seine Mutter gewarnt.
Es gab keinen Menschen, dem gegenüber er so vorsichtig war wie Frau Wiegand. Von ihm würde sie nichts erfahren über das, was in der kleinen Familie geschah. Und was geschah auch schon? Bis auf den gebrochenen Arm war ihm noch nie etwas wirklich Schlimmes zugestoßen. Manchmal
hungerte er, weil seine Eltern zu betrunken waren, um einkaufen zu gehen oder etwas zu kochen, aber irgendwie gelang es ihm immer, bei den anderen Kindern etwas zu schnorren, ein Stück Schokolade oder ein paar Brausebonbons. Und wenn Mama gut drauf war, gab es sowieso keinen Grund mehr zur Klage, dann briet sie ihm Fischstäbchen und machte ihm einen ganzen Berg Kartoffelbrei dazu, schön sahnig, wie er ihn mochte. Noch heute lief ihm das Wasser im Mund zusammen, wenn er an Mamas Kartoffelbrei dachte. Er hatte ihn später nirgendwo mehr so köstlich gefunden.
»Verstehst du?«, fragte er. »Es war alles in Ordnung. Es war alles in Ordnung !« Er trat mit dem Fuß gegen den Bettpfosten. Er hätte am liebsten irgendetwas zerschlagen, aber er wusste, dass er sich beherrschen musste. Er durfte nicht ausrasten. Er musste seinen Verstand zusammenhalten.
Er sah Rebecca an. Sie saß in dem Lehnsessel in der Ecke, ganz still und starr, aber er hatte sie auch so zusammengeschnürt, dass sie sich nicht bewegen konnte. Er hatte ihr ein zusammengeknäultes Taschentuch in den Mund geschoben und anschließend ihre gesamte untere Gesichtshälfte mit Paketklebeband zugepappt. An der Art, wie sie laut und angestrengt Luft durch die Nase einsog, konnte er erkennen, dass ihr das Atmen sehr schwer fiel. Ihre dunklen Augen waren weit aufgerissen. Er sah die Angst darin. Sie hatte Todesangst.
Gut so.
Und das Beste war: Sie musste ihm zuhören. Zum ersten Mal nach all den vielen, langen Jahren musste ihm jemand zuhören. Diesmal konnte sie ihn nicht abschütteln wie ein lästiges Insekt, diesmal konnte sie ihn nicht einfach ignorieren oder so tun, als rede er einfach nur Unsinn. Sie musste ihn ernst nehmen, ob sie wollte oder nicht. In ihrer Situation war jeder Versuch, Herrin der Lage zu werden, von Anfang
an zum Scheitern verurteilt. Er bestimmte, was passierte. Er hoffte, dass sie das begriffen hatte.
»Meine Eltern liebten mich«, sagte er. Es tat gut, diesen Satz zu sagen, es löschte etwas von dem Schmerz in ihm. Er warf Rebecca dabei einen scharfen Blick zu, er wollte wissen, ob es in ihr den geringsten Zweifel an der Richtigkeit dieser Worte gab. Dann hätte er ihr seine Faust ins Gesicht geschmettert. Ohne mit der Wimper zu zucken.
Aber er konnte keinen Zweifel erkennen. Nur Angst. Nichts als nackte Angst. In ihm keimte der furchtbare Verdacht, dass sie ihm vielleicht doch nicht richtig zuhörte. Dass sie so mit ihrer Angst beschäftigt war, dass seine Worte an ihr vorüberrauschten. Ein bisschen hatte es den Anschein. Sie blickte gar so panisch drein.
Vielleicht war es auch nicht
Weitere Kostenlose Bücher