Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
irgendwann auch etwas essen.«
Er sah sehr erschöpft aus.
»Wie spät ist es?«, erkundigte er sich.
Inga blickte zu der Uhr auf dem Kaminsims hin. »Es ist
fast ein Uhr. Marius, ich müsste auch dringend endlich auf die Toilette.«
»So spät schon? Ein Uhr?« Er wirkte überrascht. »Ich merke kaum, wie die Zeit vergeht. Ich habe lange mit Rebecca gesprochen. Viele Stunden, glaube ich.«
»Marius, ich …«
»Nein. Du kannst jetzt nicht zur Toilette.«
Resigniert wagte sie eine andere Frage. »Wie … geht es Rebecca? Ist sie in Ordnung?«
»O ja«, sagte Marius, »sie ist in Ordnung. Sie ist sogar sehr in Ordnung. Menschen wie sie sind immer in Ordnung. In ihrem Leben ist doch alles nach Plan gelaufen!«
Hatte es Sinn, mit ihm über Rebeccas Depressionen zu sprechen? Über die Katastrophe, die der Tod ihres Mannes angerichtet hatte? Darüber, dass Rebecca die Letzte wäre, die von sich sagen würde, in ihrem Leben sei alles nach Plan gelaufen?
Sie entschied sich dagegen. Sie hatte nicht den Eindruck, dass sie mit derlei Überlegungen zu Marius vordringen würde. Vielleicht löste sie sogar einen erneuten Aggressionsschub aus. Er sollte das Gefühl bekommen, dass sie auf seiner Seite stand. Nicht auf der Rebeccas.
»Du hast ihr deine Lebensgeschichte erzählt?«, fragte sie stattdessen. Sie selbst tappte, was diese Geschichte anging, noch immer im Dunkeln. Sie wusste jetzt, dass Marius aus asozialen Verhältnissen stammte, dass seine Eltern Alkoholiker und offenbar kaum in der Lage gewesen waren, ein Kind großzuziehen. Gleichzeitig verrieten seine Bildung, seine Sprache, sein Benehmen, dass es von irgendeinem Zeitpunkt an einen anderen Einfluss in seinem Leben gegeben haben musste. In dem Milieu, das er ihr geschildert hatte, konnte Marius nicht zu dem Mann geworden sein, der er war.
»Vielleicht solltest du für uns alle etwas zu essen machen«,
schlug sie vor, »auch für Rebecca. Was immer du ihr zu sagen hast, sie kann sich bestimmt viel besser konzentrieren, wenn sie nicht völlig entkräftet ist. Meinst du nicht auch?«
»Ich habe keine Lust zu kochen«, sagte Marius, »ich habe so viel zu tun …« Er rieb sich die Schläfen, als plagten ihn Kopfschmerzen. »Es gibt so vieles zu sagen …«
»Du siehst ganz kaputt aus. Als hättest du seit Tagen nicht geschlafen und nicht gegessen. Du brauchst Ruhe, Marius. Du bist mit den Kräften und den Nerven am Ende, und ich denke …«
Er lächelte. »Das hättest du gern, nicht? Dass ich mich schlafen lege. Und dass du die Gelegenheit zur Flucht nutzen kannst!«
»Wie sollte ich denn fliehen?« Ihre Fesseln waren inzwischen sehr locker geworden. Sie hielt den Atem an, dass er nicht auf die Idee käme, die Verschnürung zu kontrollieren. Sie meinte, dass es keine ganze Stunde mehr dauern könnte, bis sie in der Lage wäre, sich zu befreien.
»Ja«, sagte Marius nachdenklich, »wie solltest du fliehen? «
Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Er lächelte so seltsam.
Plötzlich war er mit einem einzigen Schritt hinter ihr und zerrte mit einem solch heftigen Ruck an den Nylonschnüren, dass Inga schmerzerfüllt aufschrie. Die Seile schnitten scharf wie Messer in ihr Fleisch.
»Du tust mir weh, Marius! Du tust mir weh!«
»Du hast ja ganz schön intensiv gearbeitet, während du hier so schwach und hungrig und durstig auf deinem Stuhl gesessen hast«, stellte er fest. »Alle Achtung, man muss dir ein Kompliment machen! Aber so warst du immer, nicht wahr? Still und zäh und beharrlich! Und dabei die Welt aus großen blauen Augen anschauen und in Sicherheit wiegen!«
Er kam hinter ihrem Rücken hervor und baute sich vor ihr
auf. Dann schlug er ihr zweimal ins Gesicht, ihr Kopf flog erst nach rechts, dann nach links. Sie sah Sterne vor den Augen und glaubte einen Moment lang, sie werde die Besinnung verlieren. Der Schmerz war atemberaubend.
»Nein!«, schrie sie.
Er starrte sie hasserfüllt an. »Die ganze Zeit habe ich schon den Verdacht«, sagte er, »ich spüre es. Ich habe es vom ersten Moment an gespürt. Du hast dich mit ihr zusammengetan. Du bist ihre Freundin geworden. Du bist auf ihrer Seite! Gib es zu!«
Sie wimmerte leise. Ihr Kopf dröhnte, ihre Wangen brannten wie Feuer. Sie merkte, dass ihr Tränen aus den Augen liefen.
»Du sollst es zugeben!«, schrie Marius.
Sie weinte. Sie konnte nicht sprechen.
Er trat wieder hinter sie, zerrte an den Fesseln, schnürte ihre Handgelenke so zusammen, als wolle er sie dabei zerbrechen. Er fesselte,
Weitere Kostenlose Bücher