Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
knotete, vergewisserte sich immer wieder, dass die Seile so fest saßen, wie es nur ging. Inga hörte ihn dabei keuchen. Sie konnte seine Wut spüren, seinen heillosen Hass.
Endlich schien er mit seinem Werk zufrieden. »Da kommst du nicht mehr raus«, sagte er, »und im Übrigen werde ich dich jede Stunde kontrollieren. Du wirst keine Gelegenheit mehr finden, unbeobachtet irgendwelche Dinge zu treiben, die mich ins Unglück stürzen sollen.«
Er stand jetzt wieder vor ihr, und unwillkürlich wich Inga mit dem Kopf zur Seite. Doch der gefürchtete Schlag blieb aus.
»Ich hätte nie gedacht, dass es zwischen uns beiden so weit kommt«, sagte er, und sie meinte, aufrichtiges Bedauern in seiner Stimme zu hören. »Du bist meine Frau, Inga. Wir haben einander Treue versprochen. Und dass wir gemeinsam
durch unser Leben gehen wollen. Seite an Seite. Was ist daraus geworden?«
Es fiel Inga schwer zu sprechen. Ihr Mund fühlte sich taub an. Dennoch versuchte sie, Worte zu formen.
»Du hast mich von deiner Seite gestoßen«, sagte sie. Ihre Stimme klang seltsam, fand sie. Aber vielleicht hörte sie auch nicht mehr richtig. Sie hatte den Eindruck, dass ihr rechtes Ohr etwas abbekommen hatte. »Du hast mir bis jetzt nicht erklärt, was eigentlich los ist. Du hast mir nie etwas über dein Leben erzählt. Ich habe keine Ahnung von dir. Ich weiß nicht, was Rebecca dir getan hat. Ich sehe nur, was du mir antust. Du hast mich gefesselt. Du hast mich stundenlang dürsten lassen. Du lässt mich hungern. Du schlägst mich. Du verbietest mir, auf die Toilette zu gehen. Wundert es dich denn, dass ich wegmöchte?« Sie sah ihn an, konnte spüren, dass sie ihn erreichte. Er wirkte ein wenig nachdenklich. Das Schlimme war nur, dass sie inzwischen erlebt hatte, wie rasch sein Wahnsinn jedes Verständnis, jedes Entgegenkommen in ihm innerhalb weniger Sekunden auslöschen konnte. Es blieben immer nur sehr kurze Spannen, in denen er bei klarem Verstand ansprechbar war.
»Du lässt mir ja keine Wahl«, erklärte er. »Ich habe euch in den letzten Tagen beobachtet, das sagte ich ja schon. Ihr seid Freundinnen geworden. Du und dieses … dieses jämmerliche Stück Dreck da oben.«
»Was hat sie dir getan?«
Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Es ist so schwer, Inga. Es ist so sehr schwer, darüber zu sprechen. Ich bin doch der Letzte für dich. Der Allerletzte.«
»Nein.«
»Doch. Ich bin das immer gewesen. Du hast mich immer verachtet. Wegen meiner Herkunft, und weil ich mich nie habe durchsetzen können.«
»Ich habe doch von deiner Herkunft nie etwas gewusst. Und selbst wenn, hätte ich dich doch nicht verachtet! Wie kannst du ein so falsches Bild von mir haben?« Wenn ihr nur das Sprechen nicht so schwer fiele! Zudem hatte sie inzwischen den Eindruck, als schwelle ihr Ohr von innen zu. Er hatte irgendetwas an oder in ihrem Kopf verletzt. Die Schmerzen rasten durch ihre Stirn. »Niemals habe ich von dir gedacht, du seist der Letzte. Nie, nie, nie!«
Er nickte nachdenklich. »Ja, ich habe dir ja auch vertraut. Ich wusste, du meinst es ehrlich mit mir.«
Sie begann sich an die fehlende Logik in seinen Reden zu gewöhnen. Er warf ihr vor, sie verachte ihn, habe ihn immer verachtet, und im nächsten Moment versicherte er, ihr stets vertraut, ihre Ehrlichkeit gespürt zu haben.
Er ist total gefährlich, sagte ihre innere Stimme, denn er ist keine Sekunde lang berechenbar. Du kannst dich auf nichts einstellen. Du sagst etwas, und es kann gerade noch das Richtige gewesen sein, und im nächsten Moment löst es eine Katastrophe aus.
Sie hätte ihn gern gebeten, ihre Fesseln ein wenig zu lockern. Er hatte sie zu fest zusammengezurrt, ihre Hände würden bald absterben. Aber sie wagte nicht, etwas zu sagen. Wenn er es als einen Versuch wertete, ihn auszutricksen, wurde er womöglich wieder gewalttätig.
»Du kannst mir vertrauen«, sagte sie, »daran hat sich nichts geändert.«
Wieder legte sich die Feindseligkeit über sein Gesicht. »Das habe ich gemerkt. Du hast versucht zu fliehen.«
»Deine Fesseln schnüren mir das Blut ab. Ich habe versucht, ein wenig mehr Spielraum zu haben.«
»Erzähl mir nichts«, sagte er verächtlich, »du hältst dich für sehr schlau und mich für ziemlich dumm. Sowie du die kleinste Gelegenheit hättest, würdest du versuchen, dich aus
dem Staub zu machen. Du hast keine Ahnung von mir. Ich wette, du denkst, dass ich ziemlich durchgeknallt bin, und dass man versuchen sollte, mir
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