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Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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brennen. Es war dunkel. Meine Hände waren gefesselt, und ich war mit einer Kette um den Fuß der Toilette festgebunden. Mein Vater sagte, das sei zu meinem Besten, und er wäre am nächsten Tag wieder da. Er verpisste sich und kam nicht wieder. Verstehst du? Er kam tagelang nicht wieder, und ich dachte, ich müsste sterben. Ich hatte nichts zu essen und nichts zu trinken, und ich hatte Todesangst. Meine Mutter war nicht da, und ich schrie, und niemand hörte mich. Niemand. Ich war ganz allein !«
    Sein Gesicht glänzte von Schweiß. Seine Augen waren weit aufgerissen und sehr dunkel. Die Todesangst des kleinen, verlassenen Jungen stand in ihnen zu lesen, und unwillkürlich versuchte Inga an ihren Fesseln zu zerren; nicht weil sie fliehen wollte, sondern weil sie das überwältigende Bedürfnis
spürte, ihn in ihre Arme zu ziehen, ihn zu streicheln, zu trösten. Ihm Wärme und Halt zu geben und die Qual aus seinen Augen zu vertreiben.
    »Warum hast du mir das nie erzählt?«, fragte sie hilflos. »Warum hast du nie davon gesprochen?«
    Sie bekam keine Antwort.
    10
    »Und?«, fragte Wolf. »Wie ist es? Gedenkst du, irgendwann wieder in unserem gemeinsamen Schlafzimmer einzuziehen, oder bleibt die Dachkammer der Dauerzustand?«
    Er war spät nach Hause gekommen – es war nach neun Uhr –, und es war ihm anzumerken, wie sehr ihn der Umstand irritierte, dass ihm Karen nicht wie sonst entgegeneilte und sich rasch anschickte, für ihn noch einmal den Abendessenstisch zu decken und ein Glas Wein einzuschenken. Sie war ihm überhaupt nicht entgegengekommen, sondern auf der Veranda sitzen geblieben, wo sie im Schein der Gartenlaterne in einem Buch las.
    Wolf war hinaufgegangen und hatte sich umgezogen; nun erschien er in Jeans und T-Shirt und leise verunsichert draußen bei ihr.
    Karen sah von ihrem Buch auf. »Ich habe nicht alles dort hinaufgeschafft, um es gleich wieder nach unten zu bringen. Ich fühle mich wohl, so ganz für mich.«
    »Aha.« Er ließ sich auf einen anderen Stuhl fallen. »Du hast also vor, dass wir von nun an getrennt leben. Unter einem Dach, aber dennoch getrennt.«
    »So leben wir doch schon die ganze Zeit.«
    »Ja? Ich habe das nicht so gesehen, aber wenn du
meinst …« Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Und mein Abendessen kann ich mir dann in Zukunft auch selber machen?«
    »Es steht etwas für dich in der Küche. Du musst es dir nur aufwärmen.«
    »Schön. Man fühlt sich wirklich umsorgt, wenn man nach Hause kommt.«
    Karen erwiderte nichts. Ihr war klar, dass er ihr Verhalten für eine Strategie hielt, und vermutlich überlegte er sich bereits den Gegenzug. Er war überrascht worden, das hatte ihn ins Hintertreffen gebracht, aber Wolf war nicht der Mann, der eine solche Situation auf sich beruhen lassen würde.
    Was ihr ein Gefühl der Gelassenheit gab, war der Umstand, dass sie in Wahrheit keine Strategie verfolgte. Er hatte noch nicht begriffen, dass er an jenem Sonntag zu weit gegangen war, als er abends die Kinder absetzte und wortlos weiterfuhr. Nicht, weil dieses Verhalten so besonders und außergewöhnlich schlimm gewesen wäre. Aber es war der berühmte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Seit jenem Abend war nichts mehr wie vorher. Sie hatte ihn losgelassen. Und es begann sich eine Leichtigkeit in ihr auszubreiten, die sich viel zu verführerisch anfühlte, als dass Karen sie aufs Spiel gesetzt hätte, indem sie erneut nach ihm griff.
    Wolf machte eine Kopfbewegung zu dem Nachbarhaus hinüber. »Und? Irgendetwas Neues vom … vom Schauplatz des Verbrechens ?«
    Da er dieses Thema für gewöhnlich strikt mied, verriet seine Frage, welch intensive Verlegenheit er zu überspielen suchte.
    Karen nickte. »Kronborg war heute Morgen da. Und am späten Nachmittag noch einmal.«
    »Oh! Kronborg war gleich zweimal heute hier! Warum
überrascht mich das nicht wirklich? Er ist inzwischen täglicher Gast bei uns. Lade ihn doch mal zum Essen ein! Ich würde unser neues Familienmitglied gern näher kennen lernen! «
    »Du hast mich gefragt. Und ich habe geantwortet. Ich verstehe deinen Zynismus nicht!«
    Wolf schwieg. Nach einer Weile fragte er: »Was hat Kronborg gewollt?«
    »Sie haben etwas sehr Entscheidendes herausgefunden: Die Lenowskys hatten einen Pflegesohn. Er ist inzwischen erwachsen und verheiratet, aber er hat von seinem sechsten Lebensjahr an bei ihnen gelebt.«
    »Einen Pflegesohn? Ein Adoptivkind also?«
    Karen schüttelte den Kopf. »Nein. Ein

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